Thursday, January 31, 2008

Neue Erfahrungen: Bäckereien, Lebensmittelgeschäfte, Märkte und Eisdielen....





Der Marktplatz mit Georgenkirche und Rathaus
Rechts in dem alten Gebäude am Markt war das beliebte Schreibwarengeschäft fuer Schulbedarf


Meine ersten Ausflüge in die Welt des Einkaufens von Lebensmitteln geschahen in Begleitung meiner Mutter. In der Lutherstraße gab es eine kleine Bäckerei, die "Liebetrau" hieß. Dort konnte man wunderbare Brötchen und ebenso guten Kuchen, Quarkkuchen, Pflaumenkuchen, Fünferstückchen, Bienenstich und andere Köstlichkeiten bekommen. Frau Liebetrau war eine nette, dicke Frau, zu der ich dann auch alleine ging, um Brötchen zu holen.

Ich habe sie auch nochmal in den sechziger Jahren auf einem meiner Besuche in E. in ihrem Laden angesprochen und sie konnte sich an mich erinnern.

Neben der Bäckerei war ein kleiner "Kolonialwarenladen", wo wir Zucker, Salz, Malzkaffee,Tee, Mehl, Gries, Nudeln, Kakao (wenn es den gab), Bonbons und andere Sachen kauften, die mir entfallen sind. Ich weiss nur, dass Mehl, Gries, Salz, Zucker etc. in grossen Schubladen waren, aus denen der Kaufmann oder seine Frau diese Sachen in spitze Papiertüten schaufelte. Meine Mutter schickte mich, als ich vielleicht fünf oder sechs war, allein zum Laden mit einer kleinen Einkaufsliste, die ich dort vorlegte und die dann von den recht freundlichen Kaufleuten besorgt wurde.

Es gab noch eine andere Bäckerei in der Lutherstrasse, näher am Lutherhaus gelegen. Dort hatten sie die beliebten "Amerikaner", ein Gebäck mit weißer oder schwarzer Glasur auf einer runden Oberfläche und gewölbtem Boden, der Name sicher eine Nachkriegserfindung durch den kurzen Kontakt mit amerikanischen Sodaten bei Kriegsende.
Ich probierte auch ihre anderen Kuchen und Brötchen, aber Liebetraus Leckereien war mir erst mal am liebsten.
Irgendwann entdeckte ich noch eine Bäckerei in der Burgstraße, nicht weit vom Spielplatz und von da an holte ich mir öfter ein "Fünferstückchen", das aber nicht mehr nur 5 Pfennige, sondern eher 20 oder 25 Pfennige kostete. Oder auch ein "Baiser", auf Französisch "Kuss", eine luftige Creation aus Eisweißschnee und Zucker, innen ein bißchen feucht und klebrig, außen "bröckelig", schlimm für die Zähne, herrlich für's kindliche Leckermaul.
Wie man sehen kann, spielten Bäckereien eine große Rolle in meiner Diät. Aber da ich ständig in Bewegung war, wurde ich auch nicht dick.

Brot kauften wir in einer anderen Bäckerei, ich glaube, in der Marienstraße oder Johannisstraße. Allerdings waren meine Eltern oft nicht zufrieden damit, es war schlecht gebacken, hatte feuchte Streifen am Rande der Rinde und das war nicht akzeptabel. So waren sie immer auf der Suche nach gutem Brot, anscheinend war das schwieriger als man erwarten würde.

Auf dem Marktplatz bei der Georgenkirche und dem Rathaus war meistens einmal in der Woche ein Gemüsemarkt, allerdings ein sehr bescheidener. Es gab, mit heute verglichen, keine große Vielfalt: Möhren, oft schon recht ältlich, Kartoffeln, die in größeren Mengen im Keller gelagert wurden, Kohl in allen Farben, grün, weiß und lila, auch Kohlrabi, Lauch ab und zu, vielleicht Zwiebeln, Gurken, ab und zu auch mal Grüne Bohnen oder Erbsenschoten, Blumenkohl, aber freilich keinen Broccoli. Den lernten wir alle erst in den siebziger Jahren in Frankfurt kennen, wie so viele andere Gemüsesorten auch.
Sellerieknollen, wenn man Glück hatte, Kopfsalat, der öfter schon beim Kauf am verwelken war. Im Sommer mal Kirschen, die schnell weggekauft waren, Äpfel im Herbst, Pflaumen und Birnen. Wenn ich an Birnen denke, dann eher an die Birne, die ich zu Karin Husemeyers Geburtstag Ende Oktober von ihrem Baum im Hof bekam und die mir sehr gut schmeckte.

Dieses etwas kärgliche Angebot schien mir jedoch genug zu sein, meinen Eltern weniger, denn es gab diese Dinge auch nicht immer alle zur gleichen Zeit. Man mußte nehmen, was es gerade gab.
Unsere Lebensmittel wurden auch ab und zu ergänzt durch Obst vom Baum von Freunden oder von den Johannisbeeren im Garten der Großeltern in der Kapellenstraße. Selten kostete ich auch einen Pfirsich von einem Baum einer befreundeten Familie in der Bornstraße.




Erst 1960 in West-Berlin, auf dem "Weg" nach Frankfurt, aß ich Pfunde von Pfirsichen, die mir als das absolut Köstlichste an Obst schienen, das existierte.

Im Dezember, um Weihnachten herum, gab es öfters Orangen oder Mandarinen und auch Bananen, vermutlich aus Kuba. Das war einmal im Jahr und damit ein großer Genuß. Der Nikolaus brachte mir immer schöne rote Äpfel und manchmal Mandarinen.




Nicht umsonst wurden die DDR Bürger im November 1989 an der Grenze mit Bananen empfangen. Es war allgemein bekannt, dass sie Mangelware waren, ebenso wie Zitrusfrüchte und Pfirsiche.

Ich jedenfalls fand Bananen und auch Äpfel eine wunderbare Sache und esse sie immer noch täglich.
Woher diese seltenen Obstsorten jedoch kamen, war mir unbekannt. Man sah sie nie in Lebensmittelläden offen im Warenangebot. Sie wurden "unter dem Ladentisch" verkauft, man mußte Beziehungen haben.



Diese hatte mein Vater. Es gab einen für damalige Verhältnisse größeren Laden in der Marienstrasse, gegenüber der Barfüßerstraße, der solche Delikatessen hatte und mein Vater hatte wohl diese gute Beziehung zu dem Inhaber aufgebaut. Es war noch kein HO Laden (siehe Eklärung der Abkürzung HO weiter unten) in den früheren Fünfziger Jahren. So konnten wir sogar zu Weihnachten Kamchatka Krebsfleisch in Dosen bekommen, das, auf Weißbrot mit Majonaise gestrichen und Zitronensaft darauf geträufelt, wenn vorhanden, eine feine Sache war. Wir setzten diese Tradition später auch in Frankfurt noch für einige Zeit fort.



Aus diesem Laden kam wohl auch der seltene Käse, Edamer oder anderer Scheibenkäse, den ich mit Vorliebe auf frischen Brötchen aß.

Ab und zu ergatterte mein Vater Halva oder getrocknete Feigen, alles Dinge, die ich nach wie vor schätze, wenn auch jetzt selten esse, weil ich ja mit meinen über 60 Jahren "aufpassen" muß.





Der Johannisplatz in der Innenstadt



Fleisch war ein besonders schwieriges Kapitel in der Lebensmittelversorgung. Mein Vater, der schon dank seiner "Beziehungen" für vieles sorgte, was das Essen betraf, war ein Fleischliebhaber und immer bestrebt, einigermaßen gutes Fleisch zu bekommen. Er ging in den frühen Jahren oft zur "Freibank", wo es minderwertigeres Fleisch für wenig Geld gab. Er mußte dabei seine Schuhe desinfizieren, um keine Krankheiten 'rein oder 'rausszutragen.
Folgender Beitrag dazu:




"Freibank"
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie






Die Freibank war eine Einrichtung zum Verkauf von minderwertigem, aber nicht gesundheitsschädlichem Fleisch, das in der Fleischbeschau als „bedingt tauglich“ eingestuft wurde. Die Preise waren hier durchgehend niedriger als in den übrigen Verkaufseinrichtungen.
Der Begriff minderwertig ist in diesem Sinne irreführend. Das Fleisch, das in die Freibank gelangte, war Fleisch aus Notschlachtungen oder mit Veränderungen, z. B. durch Bluterguss. Natürlich kam dadurch auch die eine oder andere alte Kuh zur Verwertung. Die veterinärmedizinischen Untersuchungen für Fleisch, das in der Freibank verkauft wurde, waren aber erheblich ausführlicher als bei allen Normalschlachtungen. Meist waren es Tiere, die nach einer Verletzung notgeschlachtet wurden und diese waren im Gegenteil sogar meist jung. Dadurch war es möglich, Fleisch in hervorragender Qualität zu minimalem Preis in der Freibank zu erwerben.
Die Freibank diente insbesondere in einer Zeit des Mangels der Verwertung möglichst aller tierischen Produkte. Seit den 1970er-Jahren besteht mehr und mehr ein Überangebot an Fleisch, das zu relativ günstigen Preisen verkauft wird. Die Freibank hatte damit ihre wirtschaftliche Basis verloren.
Die Freibank in ihrem ursprünglichen Sinne gibt es heute nicht mehr, weil die Kategorie „bedingt tauglich“ in der Fleischbeschau nicht mehr existiert. Nur spezielle Schlachthöfe führen heute noch Notschlachtungen durch. Hier wird über die Weiterverarbeitung von diesem Fleisch beschieden. Fleisch, das als untauglich eingestuft wurde (z. B. BSE-verseucht), muss in Tierkörperbeseitigungsanlagen vernichtet bzw. verarbeitet werden. Anderes Fleisch, das zwar tauglich ist, aber nicht für die menschliche Ernährung verwendet wird, wird entweder zur Tiernahrungsherstellung verwendet oder zu nicht mehr essbaren Produkten verarbeitet, z. B. zu Schmierfetten.
Von „http://de.wikipedia.org/wiki/Freibank




Nun wissen wir alles über die "Freibank". Ich habe das zum ersten Mal in meinem Leben nachgeschaut



Es gab natürlich auch mehrere Metzgereien in der Innenstadt, wo mein Vater Fleisch einkaufte. Ich ging manchmal mit ihm und die Verkäuferin steckte mir ein Stück Wurst zu, was ich aber gar nicht zu schätzen wußte. Es war mir zu fett ohne Brot und mein Vater aß es. Da die meisten Kinder solche Geschenke mochten, wurde ich angestarrt. "Wie kann man nur so gute Wurst nicht mögen?"


Aus mir ist nie eine große Fleischesserin geworden, nur ab und zu aß ich gerne Rouladen oder mal eine Thüringer Bratwurst, vom Grill auf dem Tennisplatz (mehr dazu im Kapitel Tennisplatz) oder auf den Jahrmärkten und dem Sommergewinn. (auch darueber mehr später)


Fleisch schmeckte mir entweder zu sehr nach Fleisch, war also zu stark im "Tiergeschmack" oder zäh, hatte Sehnen oder Fett, alles Eigenschaften, die ich nicht ausstehen konnte und immer noch nicht mag. Ich war schon früh eine "mäkelige" Esserin.


An panierten Schnitzeln war fast nur das Panierte interessant für mich und vielleicht auch ein kleines Stückchen Fleisch, wenn es zart war. Leber aß ich nicht ungern mit Zwiebeln und Äpfeln, aber wenn ich auf diese sonderbaren röhrenhaften Sehnen stieß, würgte es mich.


Meine Oma in der Kapellenstraße machte gute Kohlrouladen, die ich sehr mochte. Ich aß des öfteren dort, als meine Mutter nach meiner Einschulung wieder arbeiten ging. Die Oma bestand aber auch darauf, dass ich den Teller leer aß, was ich nicht immer wollte.





Die Karlstraße, Hauptgeschäftsstraße der Stadt





Informationen zur HO


aus Wikipedia, von HO (Handelsorganisation)



Die Handelsorganisation (HO) war ein in der juristischen Form des Volkseigentums geführtes, staatliches Einzelhandelsunternehmen in der DDR.
Die HO wurde 1948 gegründet und bot anfangs bevorzugt lang entbehrte Gebrauchsgüter und Lebensmittel ohne Lebensmittelmarken an. 2.300 HO-Läden erwirtschafteten schon 1950 zirka 26 Prozent vom Einzelhandelsumsatz der DDR. Bis 1960 waren es 35.000 Geschäfte mit einem Umsatzanteil von über 37 Prozent.
Die Handelsorganisation war gegliedert in die Bereiche Industriewaren, Lebensmittel, Gaststätten und Warenhäuser. Die großen Centrum Warenhäuser gab es in vielen Bezirksstädten der DDR. Die Geschäfte und Warenhäuser der HO existierten neben denen der Konsum-Kette. Da diese genossenschaftlich geführt wurden und kein Staatsbetrieb waren wie die HO, wurde besonders in den Anfangsjahren der DDR von Regierungsseite versucht, die HO zu bevorteilen. Trotzdem etablierten sich beide parallel in der Alltagswelt der DDR. Die Handelsorganisation betrieb zusätzlich auch Hotels, wie beispielsweise das Hotel Neptun in Warnemünde. Nach der Wende in den Jahren 1989 und 1990 wurden die Geschäfte von der Treuhandanstalt veräußert.
Von „http://de.wikipedia.org/wiki/Handelsorganisation






Jetzt kennen wir uns auch mit der HO aus.





Ich machte auch häufig Einkäufe mit meinem Großvater Förstermann, wobei wir eine recht große Strecke von der Kapellenstraße, durch die Marienstraße bis in die Innenstadt gingen und zurück. Mein Opa ging recht langsam, da er schon älter war, was mir zugute kam, da ich ja noch recht klein war. Er wurde auf unserem Weg oft gegrüsst und hielt auch immer mal wieder ein Schwätzchen.


Meistens gingen wir in einen Käse- und Milchladen in der Marienstrßse, da Opa den Besitzer, Herrn Leutbecher, gut kannte und seinen Käse mochte. Allerdings roch es in dem Laden für meine Begriffe zu stark nach diesem einzigen Käse, einer Art "Harzer Roller" (ähnlich wie der Frankfurter Handkäse, nur kleiner), den es dort gab.


Der Besitzer war ein rosig aussehender Mann mit roten, oft gewaschenen Händen, wie der "Milchmann" in der Kurzgeschichte von Peter Bichsel. Ich war immer froh, wieder an die frische Luft zu kommen. Gerne dagegen ließ ich mir ein Eis in einer Eisdiele am Frauenplan spendieren.


Es gab noch einen anderen Milchladen gegenüber vom Kartausgarten, ca 5 bis 10 Gehminuten von der Wohnung in der Domstraße entfernt. Dort verkaufte Frau Stöber Milch aus großen Kannen, sonst gab es nichts bei ihr. Ich hatte die Aufgabe, diese Milch mit einer kleinen Milchkanne aus Blech, mit Deckel und Henkel, bei ihr zu holen, sobald ich das alleine tun konnte.


Beim Nachhausetragen hatte ich schon einige Male ausprobiert, ob ich die Kanne am Henkel herumschleudern konnte, ohne dass der Deckel abfiel und das gelang mir auch, bis auf einmal, als der Deckel abfiel und die ganze Milch auf dem Boden landete. Ich hatte kein Geld, um neue Milch zu holen, ging also bedrückt nach Hause und mußte meine "Tat" beichten. Meine Mutter war wohl nicht gerade erfreut, aber sie gab mir Geld und ich holte eine frische Kanne Milch, probierte aber diesen "Trick" nicht wieder.


Ich erinnere mich auch an eine Begebenheit in einer Bank in der Karlstraße. Ich war vielleicht 5 oder 6 Jahre alt und noch nicht in der Schule. Vor meinem Opa und mir in der Schlange der anstehenden Leute stand ein geistig behinderter junger Mann, den wir Kinder alle kannten. Ich machte eine Bemerkung über ihn zum Opa. In dem Moment drehte sich der Mann um und haute mir eins auf die Backe. Ich hatte ihn offensichtlich beleidigt und er hatte sich gewehrt. Mein Opa lachte nur und meinte, dass ich das verdient hätte, denn solche Bemerkungen mache man eben nicht. Ein früher und drastischer Lernprozess in Sachen Diskriminierung.




Noch ein Wort zum "Bierholen" bei Frau Brede in der Domstraße, nicht weit von unserer Wohnung. Sie wohnte in einer etwas heruntergekommenen Behausung mit Gärtchen davor, die mir eher wie eine Hütte als ein richtiges Haus vorkam. Sie war hager, groß und freundlich zu uns Kindern. Sie verkaufte Bier, dunkles, süßes Malzbier und "Brause" oder auch Selterswasser. Ihr Mann war wohl Kellner und brachte nicht genug Geld nach Hause, so dass sie einen Nebenverdienst brauchte. Wir Kinder kauften nicht nur das Bier für unsere Väter bei ihr, sondern auch Malzbier für uns selber. Das Bier war in Flaschen mit dem altmodischen Schnappverschluß abgefüllt, dessen Porzellanknopf man gegen den Flaschenhals klopfen konnte und so Schaum produzierte, der in der Flasche nach oben stieg und den man dann abschlürfen konnte. Da Malzbier keinen Alkohol hat oder so wenig, dass es nicht als alkoholisches Getränk gilt, war es uns erlaubt, das zu trinken. Im Sommer immer ein Genuß, den wir Kinder uns draußen auf dem Spielplatz gönnten.




Frau Bredes Bierverkaufsstelle und Wohnung in der Domstraße



Es sah aus wie auf dem Dorf



Wenn ich das Freunden oder meinen Deutschschülern hier in den USA erzähle, bekommen sie immer runde Augen und finden es erstaunlich, dass das möglich war. Aber hier kann man ja nicht mal mit Schnaps gefüllte Pralinen kaufen, da man sich damit möglicherweise betrinken könnte. Ein Witz!!!







Copyright: Gisela Foerstermann 2008





























Saturday, January 19, 2008

Die frühen Jahre, Wohnungen, Stadtviertel und Umgebung


Eisenach und Wartburg in den sechziger Jahren rechts in oberer Bildmitte die Goethe Schule und die Georgenkirche, links obere Stadt, unser Haus in der Domstraße von Osten her. Man sieht das Dach und die Rückseite, wenn man das Foto vergrößert (und ich darauf zeige).

Die ersten Lebensjahre

Ich wurde im Oktober 1947 in Eisenach geboren. Laut meiner Mutter wurde ich während "Moskauer Zeit", um 1 Uhr morgens am 5. Oktober geboren, also 2 Stunden früher als es unter "deutscher Zeit" gewesen wäre, nämlich um 23 Uhr am 4.10.1947. Im Mai 1945 bei Kriegsende drehten die Russen, sprich die sowjetischen Soldaten, die Uhren um 2 Stunden vorwärts, auf Moskau Zeit. Ob das eine offizielle Anweisung der Sowjetregierung war und wann das wieder rückgängig gemacht wurde, weiß ich nicht, aber diese Geschichte meinerzwei Geburtstage, ein deutscher und ein russischer, nämlich der 5.10. 1947, der auch in meinen Papieren verzeichnet ist, habe ich oft gehört.Verifizieren konnte ich nur die Umstellung auf Moskauer Zeit im Mai '45, nicht aber den Zeitpunkt der Zurückstellung auf die "deutsche" Zeit. Das erste Jahr meines Lebens verbrachten ich und meine Eltern in einem Zimmer in einer für mehrere Mieter aufgeteilten Wohnung in der Kapellenstraße 8 im Südviertel von Eisenach. Meine Großeltern Förstermann (Opa und Oma von mir genannt, sobald ich etwas sagen konnte neben Mami und Papi) wohnten in der Kapellenstraße 1 in einer schönen Wohnung in ihrem eigenen Haus.

Der östliche Teil des Südviertels mit dem Burschenschaftsdenkmal



Von der Kapellenstraße 8 weiss ich wenig, außer dass es Fotos von mir gibt, auf einer Decke sitzend oder in einm Körbchen in der Sonne im Garten des Hauses. Die Großmutter Paulmann war einmal zu Besuch oder wir waren bei den Großeltern Fö. in der Kapellenstrasse 1. Es muß wohl sehr eng in der Wohnung gewesen sein, in einem Zimmer, mit Küchen- und Badbenutzung für mehrere Leute.
Kapellenstraße 8, wo ich mein erstes Lebensjahr verbrachte Kapellenstraße 1, das Haus vom Opa Förstermann. Großmutter Paulmann dazu: "Wie kann man nur so ein schönes Haus so auffressen lassen von dem Grünzeug. Das macht der Engländer. Da ist aber Klinker drunter."
Das "Grünzeug", wilder Wein und Efeu, wurde in den sechziger Jahren abgemacht, siehe spätere Bilder, in denen man das Haus besser sieht.


Großmutter Paulmann und Enkelin, Juni 1948

Ein eher komischer Zufall ist, dass mein Mann und ich im Frühjahr 1995 für fast eine Woche in selben Haus in der Kapellenstraße 8 im selben Stockwerk übernachtet haben. Es wurde als Frühstückspension mit einigen Zimmern im ersten Stock benutzt, eingerichtet von einem Ehepaar, das das Haus nach der "Wende" gekauft hatte . Möglicherweise waren wir im gleichen Zimmer, in dem meine Familie 1947 war. Das Haus ist ein nicht gerade attraktiver, düsterer Backsteinbau, im neugotischen oder auch "Fabrikstil" gebaut. Die Pension hatte noch sehr viel "DDR Atmosphäre", alles war zusammengestückelt, meist bräunlich in den Farben, die Betten durchhängend, der Frühstücksraum dunkel und stickig. Aber es war relativ billig und außerdem erwarteten wir auch nicht, dass plötzlich alles "Weststandard" hatte. Es erinnerte aber auf alle Fälle an die "alte Zeiten" in der DDR.

Die beiden Wohnungen in der Domstraße

Ab Herbst 1948 zogen wir um in die Domstraße 18 in ein Stadtviertel, das näher an der Innenstadt war und auch nur ca eine halbe Wegstunde weit von der Wartburg. Es lag in einer hügeligen Gegend zwischen Innenstadt und Markt und den Villen auf dem Weg zur Wartburg. Die Wohnung, die wir bezogen, war im ersten Stockwerk des ziemlich großen Mietshauses und hatte 3 Zimmer, von denen meine Eltern und ich 2 Zimmer bewohnten. Ich schlief mit meinen Eltern im gleichen Schlafzimmer bis zum Umzug in die größere Wohnung.

Das dritte Zimmer wurde zuerst von einer Frau mit zwei Töchtern bewohnt, die aber schon bald verschwanden. Vermutlich hatte sie entweder eine bessere Wohnung bekommen oder sie war nach Westdeutschland gegangen, wie so viele Familien in den kommenden Jahren.

Hier vor dem Hintergrund der Wartburg, ich, Peter und Martina Weiland, die mit ihrer Mutter schon 1952 oder '53 nach Köln gingen, wo der Vater schon lebte. Mit Peter hatte ich viel gespielt und dann war er plötzlich weg. Ein Verlust, nicht nur für mich, auch für meine Eltern, denn wir machten mit ihr und den Kindern schöne Ausflüge in den Thüringer Wald.



Auf einem der Ausflüge mit Weilands und einer Freundin von Martina, Juli '52
Domstraße 18, 1990

auf einem meiner Eisenach Besuche

Frl. Rettberg und ihre Helferinnen. Meine Mutter rechts neben ihr und Frl. Andernacht. In dem Handwagen und in den anderen Körben sind Bücher


Dann zog Fräulein Rettberg am 5.10. 1950, an meinem dritten Geburtstag, in das freie Zimmer. Sie war früher die Lehrerin meiner Mutter gewesen auf dem Lyzeum. Inzwischen war sie in Rente. Sie war eine etwas herrische, ältere Dame mit Dutt. Ihre ehemaligen Schülerinnen halfen ihr mit einem Handwagen beim Umzug. Da sie oft ihr Essen in der gemeinsamen Küche mit ranziger Butter oder Margarine briet, roch es unangenehm in der Wohnung. Mein Vater war sehr erbost darüber, aber sie störte das


anscheinend nicht. Vermutlich war die Butter auch deshalb ranzig, weil wir alle natürlich keinen Kühlschrank hatten und Lebensmittel schnell schlecht wurden, vor allem im Sommer. Der Wohnraummangel nach dem Krieg machte es nötig, dass mehrere Parteien in einer Wohnung wohnten und Küche und Bad teilten. Auch in der neuen Vierzimmerwohnung einige Jahre später, im Erdgeschoß desselben Hauses, hatten wir ständig Untermieter oder besser gesagt, Mitmieter, zweimal hintereinander jeweils eine junge Frau, die das kleinere Zimmer neben der Küche bewohnte. Ich war zu jung, um das als sehr störend zu empfinden, aber meine Eltern mochten es natürlich nicht. Nur in einem Jahr hatten wir die Großmutter Paulmann für einen längeren Besuch, vom Oktober 1956 bis Ende April 1957, nach ihrem Sturz durch die Decke ihres morschen, alten Hauses in Camburg an der Saale, wo die Großeltern wohnten. (Dem Thema Camburg und den Großeltern Paulmann werde ich ein gesondertes Kapitel widmen) Aber das war im Grunde noch problematischer als die fremden jungen Frauen, die eigentlich auch ganz nett waren. Nur soviel zum dem großmütterlichen Besuch: Die Großmutter war viel schwieriger, da sie nicht gesund war. Sie weinte oft nachts in ihrem Bett und mein Vater, der sowieso schon Schlafstörungen hatte, haßte das. Er schien sich nicht in ihre Lage versetzen zu können. Sie hatte sich bei dem Sturz den Oberschenkelhals gebrochen, war lange im Krankenhaus in Camburg gewesen und konnte auch nicht wieder normal laufen. Sie war schon früher depressiv gewesen und das wurde durch den Unfall nicht besser. Und sicher war es auch für meine Eltern schwer, sie in der Wohnung zu haben, zumal mein Vater sich mit den Paulmanns nicht so gut verstand. Eine rundum belastende Situation. Danach hatten wir wieder eine jüngere Untermieterin, eine Tschechin, glaube ich. Die erste junge Frau, die in dem Zimmerchen wohnte, war Buchhändlerin und recht hübsch. Das fand wohl mein Vater auch und wir besuchten sie des öfteren in der Volksbuchhandlung in der Karlstraße, was immer aufregend für mich war. Das Haus in der Domstraße hatte 5 Stockwerke und 2 Souterrains. Es wohnten also recht viele Leute dort, mehrere Familien mit Kindern, aber auch ältere Ehepaare und Alleinstehende, die sich die Wohnungen teilen mußten. Unter uns wohnte ein Kellnerehepaar, das regelmäßig volltrunken nach Hause kam und sich dann auch regelmäßig auskotzte. Widerlich, denn das Haus war hellhörig. Als wir noch im ersten Stock wohnten und ich öfters die Treppe hinunterrannte und etwas lauter war, ging die Tür einer Nachbarin in der Erdgeschoßwohnung auf, in die wir später zogen und Frau Schreiner zischte mich an, ruhiger zu sein. Allerdings ging das ins eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus, wie das so bei Kindern ist. Inzwischen kann ich den Ärger der alten Frau verstehen, denn man wird lärmempfindlicher im Alter. Es gab noch eine alte Frau, Frau Zimmermann, die ihren Enkel aufzog und in der anderen Souterrainwohnung wohnte. Sie hatte etwas "hexenhaftes" an sich, eine schrille kreischende Stimme, mit der sie ihren Enkel immer rief. "Geeeert"!!!!, schrillte es aus dem Fenster, wenn sie wollte, dass er heimkam. Sie hatte eine Art Hausmeisterrolle und "passte auf", so wurde uns Kindern gesagt. Also hatten wir Respekt oder sogar Angst vor ihr, was sicher auch mit ihrer schrillen Stimme und ihrem etwas furchterregenden Äußeren zu tun hatte.




Weitere Erkundung der Welt, Spielplatz und Freunde


Meine Welt war zuerst die Wohnung in der Domstraße, in der ich bei schlechtem Wetter im relativ großen Flur mit meinem ersten Roller herumkurfte, nicht immer zur Freude der Mitmieterin. Oder ich spielte dort auch Ball.


Der erste Roller, 5.10.1950. Die Großcousinen Förstermann (Bärbel, Sabine, Ilse) und Jochen Gier


Aber ich war sehr viel draußen. Eine frühe Erinnerung ist (ich war vielleicht zwei 1/2) , dass ich auf einem Fußschemelchen vor dem Haus in der Sonne sitze und meine Mutter oben aus dem Fenster guckt. Das war der erste Schritt zum Spielen auf dem Spielplatz gegenüber vom Haus. Dort wurde "im Spätsommer ein Sandkasten aufgestellt, welcher von Gisela möglichst bei jedem Wetter aufgesucht wurde", schreibt mein Vater zu dem Foto unten.

Mein Lieblingsort für einige Jahre, der Sandkasten

Im Haus wohnte auch meine erste Freundin, Regina S., die ein Jahr jünger war als ich. Ihre Familie, auch zu dritt, bewohnte eine kleine Zweizimmerwohnung gegenüber von der Ergeschoßwohnung, in der wir wohnten. Wir spielten zusammen mit Puppen, vor dem Haus mit dem Ball oder auch auf dem Spielplatz am Geländer, an dem man wunderbar herumturnen konnte.

Regina und ich mit unseren Puppenwagen, Herbst 1951
Ihre Mutter war eine eher unscheinbare, etwas krummbeinige Frau, freundlich, aber wohl auch schüchtern und zurückhaltend. Sie kam, glaube ich, aus einer Arbeiterfamilie vom "Stiegk", einem alten Viertel im Westen von Eisenach, wo man noch stärkeren Thüringer Dialekt sprach. Regina verwechselte öfters "mir" und "mich", wenn sie sprach, also den Dativ und Akkusativ. Meine Mutter korregierte mich immer, wenn ich mir das auch angeeignet hatte. Ich sollte auf keinen Fall dieses "Proletendeutsch" sprechen, das sei "ungebildet". Zwar sprachen meine Eltern auch nicht gerade reines Hochdeutsch, sondern schon auch mit "thüringischem Einschlag", aber grammatisch korrekt. Sie waren, mehr oder weniger, "gebildet", ein wichtiges Wort damals zur Kennzeichnung der Klassenzugehörigkeit, die nach wie vor eine Rolle spielte, vor allem in den frühen Nachkriegsjahren. Und sie hatten das Abitur, das war anscheinend ein wichtiges Statussymbol. Der Vater von Regina war ein etwas finsterer Bursche, unfreundlich und autoritär. Er sah im Sommer immer ab Mittag aus dem Fenster und sonnte sich. Es hieß, er sei Lehrer, ich habe nie erfahren, in welcher Schule. Ich glaube, er war meinen Eltern suspekt. Vielleicht dachten sie, er sei SED Mitglied oder sogar bei der Stasi.

Ich denke im nachhinein, dass er wahrscheinlich auch depressiv war, wie so viele der Kriegsgeneration, die wer weiß was getan und hinter sich hatte. Ich sah Herrn S. nie lachen und er war mir unheimlich.

Regina durfte z. B. nicht in das Badezimmer, wenn die Eltern bei der Arbeit waren. Es war abgeschlossen, so dass sie einen Nachttopf benutzen mußte, der unter ihrem Bett stand. Sie zeigte mir ihn einmal und er war bis obenhin voll mit Fäkalien und Urin. In dem Zimmer roch es natürlich auch, deshalb hatte ich sie wohl gefragt, woraufhin sie mir die Ursache zeigte. Was das wohl für Spuren in ihr hinterlassen hat? Ich jedenfalls habe es nicht vergessen.

Irgendwann später hatte sie es durchgesetzt, einen Hund zu bekommen, einen jungen Foxterrier. Ich sah, wie ihr Vater ihn ab und zu mißhandelte, nach ihm trat und ihn schlug. Er wurde während des Tages auf den Küchenbalkon gesperrt und heulte oft erbärmlich. Wer weiß, ob Herr S. nicht auch seine Frau und Tochter schlug.

Da Regina juenger war und vielleicht auch eingeschüchtert vom Verhalten ihres Vaters, war sie auch meinem eigenen "autoritären" Ton nicht gewachsen. Wir spielten Schule, bevor ich in der Schule war und ich "kommandierte" sie herum. Das war dann möglicherweise der Grund, warum ihr die Eltern nach 1957 verboten, weiterhin mit mir zu spielen.

Mein "Kommandieren" betraf allerdings nur das Turnen und andere Spiele. Sie mußte mir alles nachmachen oder beim Schulespielen war ich die Lehrerin, denn ich konnte schon ein A schreiben und kleine Schulhefte basteln. Irgendwann muß sie sich darüber beschwert haben, jedenfalls sprachen wir lange nicht mehr miteinander und ich wußte erst einmal nicht, warum. Vielleicht hat ihre Mutter mit meiner gesprochen oder es blieb nur eine Vermutung. Vielleicht war es auch nur kindliche Eifersucht, weil ich öfter mit einem anderen Mädchen spielte.

Später, noch vor der Flucht in den Westen, näherten wir uns, glaube ich, wieder etwas an und sprachen hin und wieder miteinander. Aber bei meinen Besuchen in Eisenach in den sechziger Jahren habe ich sie nicht wieder gesehen. Eigentlich schade, denn wir kannten uns aus den frühen Kinderjahren.

Es gab noch andere Spielkameraden, wohl sogar noch vor der Zeit mit Regina oder zur gleichen Zeit. Den in den Westen gegangenen Peter Weiland erwähnte ich schon.

Eine andere Freundin hieß Ursula Tschechowski und ihre kleine Schwester Gisela. Sie wohnten oberhalb des Spielplatzes im Klosterweg. Das Haus ist auf dem Spielplatz-Foto zu sehen. Sie hatten einen Garten und daneben einen Obstgarten, der jemandem anderem gehörte. Der Zaun hinderte uns aber nicht, die Sauerkirschen, die man leichter erwischen konnte, zu stibitzen. Und in ihrem eigenen Garten gab es Stachelbeersträucher, die wir regelmäßig abgrasten, auch, wenn die Beeren noch nicht reif waren, sondern nur sauer. Das resultierte auch des öfteren in Bauchweh, aber abgehalten hat uns das nicht.


Leider ging die Familie, eine von vielen in dieser Zeit, in den Westen Mitte der Fünfziger Jahre und ich weiß, dass sie mir fehlten, vor allem Ursula, die 1 Jahr älter war als ich und mit der ich mich gut verstand.

5.10.1955 Karin H., ich, Gisela T., ihre Schwester Ursula, Regina, Ute S., Eva M.

Außer Karin, Eva und Regina haben alle auf dem Foto die DDR verlassen. Die Geschwister Tschechowski 1956, Ute S. 1958 oder Anfang '59, ich 1960.




Dann war da noch Gabi Neumann, in der oberen Mönchstraße wohnend, in der Nähe des Glockenturms, auch älter als ich und sehr lustig. Ich glaube, sie hatte ihren Vater möglicherweise im Krieg verloren oder er war schon im Westen, bevor auch sie und ihre Mutter "rüber" gingen, ebenso ihr Cousin Heinz. Wir spielten des öfteren "Versteckling" unterhalb des Glockenturms in den Büschen. Einmal entdeckte ich, dass meine Kleidung stark nach Urin roch. Ich konnte mir das nicht erklären, aber ich glaube, wir sahen einmal den Maler, der oben im Turm wohnte, als er seinen Nachttopf zum Fenster hinaus ausleerte. Das war der Grund für den Geruch und wir spielten von da an nicht mehr dort. Der Maler hatte keine Toilette dort oben in dem alten Stadtmauerturm und entsorgte seine Abwässer auf diese mittelalterliche Weise.

Da meine Freundschaft mit Regina beendet schien, fand ich eine neue Spielkameradin, Brigitte Schulze, genannt Mausi. Sie war hellblond und hatte ein freundliches Wesen. Allerdings war ihr Vater Parteigenosse, sie hatten die Wohnung der geflohenen Tschechowskis bekommen. Über ihren Bruder werde ich noch berichten, denn er beobachtete uns, bevor meine Mutter und ich in den Westen gingen. Mehr dazu später im Kapitel über die Flucht.



Gabi, Mausi, Ute S, ich, Daggi, Karin H., Regina, 5.10. 1957




Gabi ging mit ihren "Resteltern" und Cousin Heinz 1958 in den Westen. Auffällig war, dass zwei Mädchen in dem Foto, Gabi, Daggi, ebenso Eva M.im anderen Foto entweder keinen Vater oder keine Mutter mehr hatten. Auch der der Sohn einer Familienfreundin meiner Eltern wuchs ohne Vater auf, der nach dem Krieg Selbstmord begangen hatte. Und ein anderer Vater von einer Mitschülerin beging ca 1958 Selbstmord und die Mutter verließ auch bald nach dieser Tragödie mit beiden Kindern die DDR.


Ernsti, unbekannt, ich und Mausi, Spätsommer 1958



Es gab noch andere Kinder, eigentlich auch mehr Jungen als Mädchen. Leider habe ich nur Ernsti im Bild, der oft mit uns spielte. Er war leicht behindert am Bein und Fuß, konnte aber schneller rennen als ich. Er war wahrscheinlich der netteste Junge unserer Gruppe. Auch er wuchs ohne Vater auf.


Das Thema der Flucht in den Westen wurde mir immer bewußter, je älter ich wurde, von den frühen Fünfziger Jahren bis 1960. Es gab im Bekanntenkreis meiner Eltern, im Tennisclub, in der Schule und unter meinen Freunden immer mehr "Republikflüchtige". Wenn ich meine Geburtstagsfotos betrachte, fehlten in jedem Jahr einige Kinder, die im vorigen noch dabei waren. Ich werde dieses Thema in einem der folgenden Kapitel über unsere Flucht noch eingehend beschreiben.

Copyright 2008 G. Foerstermann


Tuesday, January 8, 2008

Winter in Eisenach

Die Wartburg bei Eisenach

Im Winter denke ich mehr an Deutschland und besonders an Eisenach, wo ich geboren und aufgewachsen bin und werde nostalgisch. Nach dem Motto: in Eisenach lag immer Pulverschnee und die Sonne schien oft, so dass die Schneekristalle glitzerten. Es gab Rauhreif, der alles bedeckte und die Landschaft wunderbar verwandelte. Das stimmt auch, aber es gab sicher auch einige graue Tage, so wie hier in Portland. Allerdings wird es im Winter nie so viel geregnet haben, besonders nicht so viel wie dieses Jahr 2008.

Zur Veranschaulichung meiner kindlichen Winterfreuden will ich ein bißchen mehr ins Detail gehen.

Gegenüber von unserem Mietshaus war ein Spielplatz mit zwei alten Bäumen, einer Kastanie und einm Ahornbaum und niedrigen Büschen ringsherum, ehemals wohl ein Grundstück mit einem Haus und grossem Garten. Da Eisenach sehr hügelig und bergig ist, war der Spielplatz es auch, ein bißchen wenigstens, hügelig genug für uns Kinder. Ich lernte dort das herrliche Schlittenfahren kennen und dann mit vier Jahren zum ersten Mal auf Skiern zu stehen und bald auch einen kleinen Hügel hinunterzufahren.



Auf dem Weg zur Wartburg, Januar 1951



Schlittenfahren mit den recht vielen Nachbarskindern war erstmal am schönsten. Allerdings machte ich einmal einen der Jungen nach, indem ich es mit einem "Bauchklatscher" versuchte, also auf dem Bauch auf dem Schlitten, Gesicht nach vorn, Arme seitlich zum Lenken, einen Abhang runterfuhr. Ich fiel wortwörtlich auf die Nase und blutete, hatte sie wohl am Schlitten aufgeschlagen. Sicher habe ich wie am Spieß geschrien.
In den frühen Fünfziger Jahren gab es in unserem Viertel mehr oder weniger keine Autos, höchstens das des Zahnarztes und später ein Taxi, das in unserer Straße parkte. So konnten wir ungefährdet vom Spielplatzhügel auch auf die Straße fahren, wenn wir schnell genug waren und der Schnee vereist war, was der Schnelligkeit half.

Wir fuhren auch bei Dunkelheit noch Schlitten. Von wenigen Straßenlampen beleuchtet, sausten wir die Burgstraße hinunter, ab und zu auch mit mehreren Schlitten, die aneinander gebunden waren, ein ganz besonders wildes Vergnügen, das nicht erlaubt war. Es gab einen Volkspolizisten, er hieß Rehbein, sein Name ein Anlaß zum Spott für uns, der hinter uns her war, aber wir waren natürlich schneller als er. Mehr als uns drohen konnte er nicht.

Ich war oft völlig durchgeweicht vom Schnee als kleineres Kind, weil ich vermutlich mehr im Schnee lag als stand und es gab ja keine wasserdichte Winterkleidung. Ich trug nur einen zweiteiligen Trainingsanzug mit Kapuze. Aber davon hatte ich mehrere und ging dann in die Wohnung gegenüber vom Spielplatz , um mich umzuziehen und trockene Handschuhe zu holen.

Kalt war mir nie, Kinder haben ja einen anderen Kreislauf und bewegen sich mehr als Erwachsene, zumindest war das damals so. Ich liebte die kalte Schneeluft, den glitzernden Schnee, wenn die Sonne schien und hatte viel Spaß mit diesem Element.
Wenn der erste Schnee fiel, oft schon im November oder Anfang Dezember und es wurde kalt, machten wir "Rutschbahnen", indem wir rannten und dann auf dem immer glatter werdenden Schnee rutschten, bis ein Teil des Bürgersteiges völlig vereist war, wunderschön für uns, weniger angenehm für die Erwachsenen.



Skihase, Winter 1951/52, Auf dem Spielplatz, im Hintergrund unser Mietshaus mit Kriegsspuren
Als ich älter war und besser skilaufen konnte, wanderten meine Eltern und ich auch weiter weg von der Stadt, die Skier auf der Schulter, um dann im Helltal unterhalb der Wartburg zu laufen oder in der Nähe des Burschenschaftsdenkmals. Dort lernte ich von meinem Vater den "Schneepflug", um erst einmal langsam einen Abhang hinunterzukommen. Nach und nach lernte ich Bogen zu fahren und es machte immer mehr Spaß, es auch auf steileren Hängen zu wagen. Natürlich gab es keine Lifte, wir kletterten alle entweder mit den Skiern an den Stiefeln hoch oder schnallten sie ab und trugen sie.

Es gab "Fettbrote" zu essen, Schweineschmalz oder, seltener, Gänseschmalz mit Salz und "Grieben", kleinen Zwiebelstückchen, eine Kalorienbombe, die uns sehr schmeckte.
In den späteren Fünfziger Jahren machten wir auch einige größere Skitouren mit Freunden vom Tennisclub, zur Hohen Sonne oder auf dem Rennsteig zum Inselsberg.
Nur einmal ging's mit dem Bus nach Oberhof, ein stinkender Ikarus Bus, in dem mir fast schlecht wurde. Das war weniger erfreulich und es wurde auch nicht wiederholt, es war zu weit und zu umständlich, wir hatten ja einige schöne Möglichkeiten zum Skilaufen in der Nähe, warum also weit fahren.




Skitour auf die Hohe Sonne, Januar 1954



Eines Abends kamen wir, meine Mutter und ich, spät heim von einem Skiausflug, es wurde schon dunkel im Wald und ein bißchen unheimlich, obwohl der Schnee den Waldweg erhellte. Wir hörten etwas weiter entfernt im Tal Füchse bellen, es war schaurig, da wir wußten, dass es tollwütige Füchse in der Umgebung von Eisenach gab. Ich glaube, meine Mutter war nicht besonders beunruhigt, also war ich es auch nicht. Trotzdem habe ich das nicht vergessen, sicher auch deshalb, weil es ungewöhnlich war. Normalerweise waren wir um diese Zeit schon zu Hause.

Ein anderes Mal, ich war schon etwas älter, vielleicht 9 oder 10 Jahre alt, ging ich mit zwei etwas älteren Jungen aus der Nachbarschaft zum unteren Helltal, um dort skizulaufen. Allerdings hatten die Jungen im Kopf, eine kleine Sprungschanze aus Schnee zu bauen und darüber zu springen. Ich wollte es auch probieren, fiel aber hin und verletzte mir den Knöchel leicht. Dieses Abenteuer versuchte ich nicht dann nicht noch einmal.

Es gab eine echte, relativ große Sprungschanze im oberen Helltal, wo ab und zu ein Springen stattfand, aber sehr viel habe ich nicht davon mitbekommen, es passierte zu selten. Es war mir auch etwas unheimlich, so durch die Luft zu fliegen, ohne sich die Knochen zu brechen.


Wieder ein Skiausflug zur Hohen Sonne, Februar 1955



Noch etwas zu den Skiern, die wir hatten. Die meiner Eltern waren noch aus der Vorkriegszeit, meine waren DDR Skier. Sie waren aus Holz und ca 10 cm breit, so dass man einen guten Halt hatte. Der Fuß im Skistiefel wurde durch ein verstellbares Lederband ueber der vorderen Kappe auf dem Ski gehalten, das Lederband war an einem Metallstück auf dem Ski befestigt. Um die Ferse herum lief auch ein Lederband mit einer Metallschnalle zum Festschnallen des Skis am Schuh. Später, moeglicherweise erst im Westen, wurde dieses archaiische System durch die sogenannte Kandahar-Bindung (sehr afghanisch, haha) verbessert, die eine Art Kabelzug hatte, der den Schuh auf den Ski runterdrückte zur Befestigung.

Natürlich mußten die Skier gewachst werden, für Pulverschnee mit einem anderen Wachs als für nasseren Schnee. Das Wachs hatte einen harzigen Geruch, den ich mochte.

Die Skistöcke waren auch aus Holz, später aus Bambus, mit Lederschlaufen versehen, die "Teller" der Stöcke hatten einen Metallring, der mit Lederriemen am Stock verbunden war. Ab und zu gingen die Skibindungen auf, aber das passierte später bei den moderneren Bindungen auch.

Außerdem konnte man die Bindung auf Langlauf oder Abfahrtslauf einstellen. Beim Langlauf konnte man die Ferse hoch und runter bewegen wie bei heutigen Langlaufskiern. Zur Abfahrt war der Stiefel fest mit dem Boden des Skies verbunden. Es war wie ein Tourenski heutzutage. Wir trugen Lederstiefel mit viereckigen Vorderkanten, die in die Metallteile der Bindung passten.
Da wir im Mittelgebirge skiliefen, war das sehr praktisch, beide Bindungseinstellungen zu haben.

Nun noch einige Worte zum Schlittschuhlaufen auf dem Prinzenteich.
Ich lernte diesen Sport erst relativ spaet, mit etwas über acht Jahren und zwar auf den schon damals recht alten Schlittschuhen meines Vaters, mit denen er selbst als Kind gelaufen war. Sie waren mir viel zu groß, standen vorne am Stiefel über und sie mußten mit einem Schlüssel an die Sohle des Schuhs geschraubt werden. Aber das hielt mich nicht davon ab, es zu erlernen.
Zuerst war es schwierig, auf den so dünnen Kufen der Schlittschuhe auch nur zu stehen, ohne umzuknicken. Da ich aber schon skilaufen konnte, machte mir mein Vater klar, dass ich mich ähnlich wie beim Skilaufen bewegen müsste, wenn man sich beim Langlauf wie ein Schlittschuhläufer bewegt, um schneller zu sein. Das kannte ich und so bewegte ich mich dann auch in der Art und siehe da, ich kam voran, ohne gleich hinzufallen.
Der Ort des Geschehens war der Prinzenteich, ein ehemaliger Feuerlöschteich, auf dem wohl wirklich die Prinzen eines Herzogs, der seine Rezidenz in Eisenach hatte, im 18. Jahrhundert Schlittschuh liefen. Dieser Teich war nicht riesig groß, aber auch nicht so klein, dass man keinen Auslauf hatte, wenn man mal schneller laufen wollte. Etwa 250 Meter lang und 150 breit, genug Platz also für relativ wenig Leute, im Vergleich mit Eisbahnen in Frankfurt, wo man nur in einer Richtung im Kreis herum fahren konnte, weil es so voll war.
Der Marienbach mündete in den Teich am Südwestende, wo das Eis oft sehr dünn war und einige Jungen auch immer mal einbrachen. Am Ostende des Teiches gab es einen Kiosk. Im Sommer konnte man dort Limonade und Eis kaufen und auch Ruderboote ausleihen.

Im Winter prüfte der Kioskbesitzer die Eisstärke, stellte ein Schild auf, wenn das Eis zu dünn oder freigegeben war zum Eislaufen. Ab und zu schippte der Kioskbesitzer auch den Schnee von der Eisfläche in der Nähe des Kiosks.
Ab Januar bis Ende Februar war der Teich meistens zugefroren, umgeben von verschneiten Bäumen und Büschen. Es gab auch eine kleine Insel auf dem Teich, wo im Sommer die Schwäne nisteten. Dort konnte man auf Steinen eine Rast machen oder die Schlittschuhe anschrauben.




Schlittschuhlaufen, Februar 1956





Das Anschrauben bedeutete übrigens auch, dass man den Schlüssel auf keinen Fall verlieren durfte. Ich hatte ihn an einem Band um den Hals, da war er sicher.
Angenehm für mich war, dass das Haus meines Großvaters väterlicherseits unmittelbar in der Nähe war, so dass ich mich bei den Großeltern aufwärmen konnte und öfter auch eine Tasse Kakao, ein Stück Brot oder ein Plätzchen bekam.

Ich war eines der wenigen Mädchen, die dort Schlittschuh liefen, so dass ich meistens allein lief, vertieft in meine "Eislaufkünste". Die Jungen waren oft zu wild oder spielten "Hockey" mit Stöcken und Steinen, was mir wenig zusagte. Ich lernte durch Beobachten oder auch Tipps der fortgeschrittneren Kinder oder der wenigen Erwachsenen, auch rückwaerts zu fahren, im Kreis, ebenfalls vorwärts und rückwärts und schnell zu laufen. Darin erschöpfte sich aber auch mein Ehrgeiz. Spass machte es mir allemal, eben auch wie das Schlittenfahren und Skifahren, weil ich die Winterlandschaft mochte und die Bewegung in der kalten Luft.

Selbst wenn es Ende Februar oder Anfang März zu tauen anfing und auf dem Eis Schneewasser stand, ging ich trotzdem öfter zum Prinzenteich, um zu sehen, ob man noch laufen konnte. Das Eis unter dem getauten Schnee war meistens noch dick genug, aber es war eine nasse Angelegenheit, vor allem, wenn man hinfiel.

Zum Winter gehörte auch der geheizte Kachelofen in unserer Wohnung in der Domstrasse. Das Haus war vermutlich vor dem ersten Weltkrieg gebaut worden, für damalige Verhältnisse war es ein recht modernes Haus, mit großen Fenstern, Bad und Zentralheizung.
Wir wohnten dort seit 1948.
Es gab Heizkörper in allen Zimmern für diese Zentralheizung, die aber nicht funktionierte. Dafür stand ein großer Kachelofen im Wohnzimmer, von undefinierbarem Grün, hellgrün bis erbsengrün.

Der Ofen wurde mit Braunkohle geheizt. Und nicht nur unser Ofen, sondern alle in Eisenach, in der ganzen DDR (die es offiziell erst seit 1949 gab). Der charakteristische Geruch machte sich manchmal schon ab September bis in den April überall breit, für mich bedeutete er aber vor allem Schnee und Wintersport.

Wenn ich diesen Geruch später irgendwo bemerkte, fühlte ich mich sofort in den Winter in Eisenach versetzt. Ich bin damit aufgewachsen, er störte mich nicht, obwohl Braunkohle ja bekanntermaßen höchst schädlich für die Umwelt und ungesund ist. Aber damals hat kaum jemand davon gesprochen, außer von der schlechten Qualität der Kohle. Wir waren froh, dass es wenigstens im Wohnzimmer einigermaßen warm war.
Die Kohlen für den Ofen waren im Keller gelagert, jedes Stück Kohle so groß wie ein Backstein, vermutlich aber etwas leichter. Natürlich legte sich der Kohlenstaub auch auf die Häuser und schwärzte sie, oder besser gesagt, schaffte ein Einheitsgraubraun, dass überall herrschte, abgesehen von neu angetrichenen Gebäuden. Doch auch die wurden schnell dunkel und unansehnlich, was u.a. auch an der Qualität der Farben lag.
In einer Nische im Kachelofen konnten man auch Äpfel backen oder braten, wie wir dazu sagten, was wir im Winter öfter machten. Und man konnte die Füße hochlegen und an die Ofenkacheln lehnen, eine sehr angenehme Art, die Füße schnell warm zu bekommen.
Die anderen Zimmer waren mehr oder weniger kalt oder wir benutzten eine Heizsonne oder den Herd in der Küche. Es erscheint rückblickend, dass wir alle wesentlich abgehärteter waren als heutzutage.
Es gab oft genug Tage, wo Eisblumen an den Fenstern wucherten, was ich sehr schön fand. Das hieß aber auch, dass es sehr kalt war, auch in der Wohnung.
Wir hatten eine Wasserleitung, aus der nur kaltes Wasser kam. Wasser für ein Bad wurde in einem großen Topf erhitzt und das mehrmals, um die immerhin vorhandene Badewanne 10 cm hoch zu füllen. Eine umständliche Angelegenheit, die nur einmal in der Woche am Sonnabend stattfand. Sonst wusch man sich kalt, eine "Katzenwäsche" natürlich. Wir müssen alle "gemüffelt" haben, zumal auch die Kleidung nicht so oft gewaschen wurde wie heute.

Noch etwas sollte ich nicht vergessen, zu erwähnen, die Stromsperre. Sie war, soweit ich mich erinnere, nicht auf den Winter beschränkt, sondern war eine "Sparmaßnahme" auch das ganze Jahr hindurch. Da aber der Verbrauch an Eliktrizität im Winter höher war als im Sommer, gab es wohl mehr Ausfälle im Winter.
Soweit ich mich erinnern kann, kamen diese dunklen Perioden unangekündigt und man saß plötzlich im Dunkeln, wobei jeder "Stromsperre" ausrief. Wir behalfen uns mit Kerzen, was es für mich gar nicht so unangenehm machte. Es war fast wie Weihnachten, wenn die Kerzen auf dem Weihnachtsbaum angezündet waren, nur nicht so hell. Im Durchschnitt dauerten diese Perioden vielleicht 1 bis 2 Stunden oder auch weniger, aber man konnte sich darauf verlassen, dass sie mit schöner Regelmäßigkeit kamen.
Wir hatten einen Gasherd, so dass das Kochen nicht wirklich beeinträchtigt war, aber sicher war es erst mal unangenehm, plötzlich in der dunklen Küche zu stehen, wenn man am Kochen war.




Copyright 2008 G. Foerstermann