Wednesday, February 20, 2008

Die Goethe Schule

Der große Tag: Die Einschulung in die Goethe Schule, 3. September 1954
mit Oma und Opa Förstermann und Mutti auf dem Schulhof


Da man als Kind ja immer lieber älter als jünger sein möchte, hoffte ich auf den Schulanfang als einen wichtigen Schritt in diese Richtung.

Im September 1954 kam ich also in die Schule. Ich hatte ein Jahr früher einen Test machen müssen, um festzustellen, ob ich "schulreif" sei mit fast 6. Da mein Geburtstag Anfang Oktober ist, die Schule aber schon im September anfing, wäre ich erst 5 Jahre und 11 Monate gewesen, zu jung nach dem Befinden der Schulbehörde. Also kam ich erst mit fast sieben in die Schule. Sehr spät für meine Begriffe, ich war schon wesentlich eher bereit dafür.

Ich bin nie in den Kindergarten gegangen, den es im Philosophenweg gab. Er lag tiefer als die enge Straße und man konnte in die Räume sehen, wo die Kinder an Tischen saßen. Mir schien das sehr langweilig und einschränkend zu sein. Meine Eltern sahen das vielleicht auch so und waren sicher eher froh, mich auf dem Spielplatz vor dem Haus herumtoben zu sehen. Aber wer weiß, was mir dadurch entgangen ist....?

Da ich also im Herbst 1953 noch nicht in die Schule kam, spielte ich ausgiebig Schule mit Regina S., wie schon beschrieben. Mein Vater hatte mir eine Art Schultasche gebastelt und ich machte mir kleine Hefte mit Hilfe von Papier, Nadel und Faden, in die ich die wenigen Buchstaben schrieb, die ich kannte.

Die Zuckertüte zum Schulanfang war als Anreiz und Versüßen des Schrittes in diese neue Welt gedacht und bei mir "einzelkindgross", außerdem hatten mir die Großeltern Förstermann noch eine kleinere Tüte geschenkt. Es war ein richtiges Fest und ein großes Ereignis für alle.

Ob wir Kinder am gleichen Tag in den Klassenraum gingen, weiß ich nicht mehr, das kann auch ein Tag später gewesen sein. Jedenfalls erinnere ich mich sehr gut an den Schulgeruch, eine Mischung aus Kreide, Staub, Scheuermittel und Toilettengeruch, etwas einschüchternd und sehr fremdartig, aber auch hochinteressant.

Ich weiß auch noch, dass ich meine rote Strickmütze auf dem Weg über die Innentreppen der Schule zum Klassenzimmer verlor. (Ich verliere Mützen immer noch und immer wieder, eine alte Tradition, die nicht tot zu kriegen ist.)

Aber wir hatten ältere Schüler bei uns, die uns halfen, zurechtzukommen. Ich glaube, ich weinte wegen der Mütze und ein freundliches Mädchen aus einer höheren Klasse fand sie wieder und begleitete mich zum Klassenraum.

Unsere Lehrerin war die sehr nette, ältere Frau Brenk, die uns durch das erste Jahr führte. Leider ging sie in Rente und wir mußten uns umstellen auf eine neue Lehrerin, Fräulein Klemm, die wesentlich jünger, hübscher und auch nett war.


Mein siebter Geburtstag mit Doris Garich, Ingrid und Lolli Dunkel (gingen 1954 oder '55 in den Westen) ich, Mitschüler Manfred, der mich offensichtlich mochte, Jochen Gier, Gisela und Ursel Tschechowski ('55 in den Westen) und den schönen, alten Kasperpuppen meiner Mutter





Vor der Haustür auf dem Weg zur Schule, mit Ranzen und Wischtüchlein für die Schiefertafel




Die Klasse war recht groß, 31 Kinder, die jeweils zu zweit auf einer Schulbank saßen. Aber damals waren wir ja noch viel schüchterner als die Kinder heute in dem Alter und wir hörten auf die Lehrerin.


Hier die Klasse 1c im Sommer 1954. Frau Brenk ging danach in Rente.



Die Namen der Mitschüler, die mir Karin Husemeyer-Roehler gab, da ich mich nicht mehr an alle erinnern konnte:

Anfang in oberer Reihe von links: Jürgen Bauer, Jutta Harms, Bernd Didjurgis, Ellen Bossac, unbekannt, Karin Husemeyer, Peter Wenzel, Margit Hirschnitz, Klaus Leidner, ich (1960 in den Westen), unbekannt

Mittlere Reihe: Rainer Apell (ging schon nach der 1. Klasse in den Westen), Reinhard Herb, Karl Pascher, Gerlinde Minge, unbekannt, Karl Hubrich (Karlchen genannt, behindert durch Schwerhörigkeit und sehr lieb), Manfred Voigt, Manfred (vom Geburtstagsbild, ging auch in den Westen, glaube ich), Brigitte Seidel, Karin Göllner oder Göller(?)

Untere Reihe: Jutta Meißner (1961, eine Woche vor dem Mauerbau in den Westen), Dietlinde Ewert, Ute Schindler (1959 in den Westen), Dieter Neumann, Christa Nowack, unbekannt (möglicherweise auch in den Westen), Monika Kurcay, unbekannt, unbekannt, Doris Günzel



In der vierten Klasse, mit Fräulein Klemm, und Wilhelm Pieck an der Wand, dem ersten Präsidenten der DDR, , 1958




Ich kann mich besonders gut ans Schreibenlernen erinnern. Wir benutzten Schiefertafeln und Griffel, eine Art Stift speziell für Schiefertafeln, und das schon erwänte Wischtuch, das an der Tafel angebunden war. Die Tafel hatte zwei Seiten, eine hatte Linien für die Buchstaben, so dass wir große und kleine Buchstaben in der richtigen Größe schreiben konnten. Die andere Seite war leer und wunderbar für's Malen mit bunten Griffeln geeignet. Es kann sein, dass wir später eine Tafel hatten, deren eine Seite auch "karriert" war, so dass wir auf ihr Zahlen schreiben konnten.

Zuerst lernten wir Druckbuchstaben, große und kleine, dann Worte, die aus einer Fibel, einem Lesebuch für Schulanfänger, kamen. Vielleicht in der zweiten Klasse oder am Ende der ersten kam die Schreibschrift dran, die wesentlich schwerer war, aber auch schöner aussah.

Die Fibel, wie überhaupt alle Schulbücher stellte die Schule, d.h. der Staat und wir mußten sie nach dem jeweiligen Schuljahr wieder zurückgeben, da die nächsten Klassen sie benutzen würden
Ich erinnere mich an eine Woche in der ersten oder zweiten Klasse, in der ich krank zu Hause im Bett war und eine Schulkameradin die Hausaufgaben vorbeibrachte, so dass ich nichts versäumte. Ich wollte das auf keinen Fall und übte im Bett das kleine t in Schreibschrift. Es war recht verschnörkelt und ich füllte die Tafel mit meinen "Tes".
Irgendwann, möglicherweise in der zweiten oder dritten Klasse lernten wir, mit Federhalter und Tinte in Hefte zu schreiben. Die Tinte war in einem kleinen Tintenfaß, das in der Schulbank in einer Vertiefung stand. Jeder hatte wohlgemerkt seine eigene Tinte.

Der oft farbenfrohe Federhalter hatte eine einsetzbare Feder aus Stahl, die man auswechseln konnte. Später hatten wir dann auch Füllfederhalter, die man aus dem Tintenfäßchen füllte, natürlich mit viel Gekleckse und blauen Fingern. Erst später im Westen hatte ich Füllfederhalter mit Patronen, die man kaufen konnte.

Ich liebte mein Federkästchen aus Holz, mit einer Art Schieber zum Öffnen und Schließen versehen, in das der Griffel, Bleistift, Bleistiftspitzer, Radiergummi und Federhalter und die Federn paßten. Manche dieser ca 20 cm langen Kästchen waren auch bemalt und sehr hübsch.

Das ist übrigens eines der Dinge aus meiner Kindheit, das ich gerne gerettet hätte, als wir aus Eisenach weg gingen.

Wir Schüler gingen alle gerne in den Schreibwarenladen am Markt, wo wir
unsere Materialien für die Schule kauften. Es war alles neu für mich und roch anders als alles vorherige. Ich hatte zwar bei meinem Opa im Büro auch oft genug in seinen Regalen herumgeschnüffelt, auch mal in die uralte schwarze Schreibmaschine eine Seite einspannen dürfen und ein bißchen die Tastatur ausprobiert. Die Schulmaterialien aber waren bunter und nun auch für mich bestimmt. Ich lernte, damit umzugehen und es machte mir Spaß.

An andere Fächer in der ersten Klasse kann ich mich kaum erinnern. Sicher malten wir auch, lernten erste Zahlen und vielleicht Lieder. In den Pausen rannten wir auf dem unteren Schulhof herum, wo die jüngeren Schüler waren. Die älteren waren auf dem oberen Schulhof hinter der Schule.


Die Goetheschule von der Domstrasse aus gesehen, 1980 aufgenommen, als ich kurz Eisenach besuchte. Ich war mit einer Reisegruppe nach Dresden gefahren, dann nach Erfurt und machte alleine einen "Abstecher" nach E.




Ich glaube mich daran zu erinnern, dass wir den Klassenraum nur in Zweierreihen sehr diszipliniert verlassen konnten, um in die Pausen zu gehen, oder wenn der Schultag zu Ende war. Ebenso mußte sich die ganze Klasse auch in solcher Zweierreihe draußen vor der Tür anstellen, wenn uns die Schulklingel rief. Erst, wenn alle Schüler da waren, konnten wir wieder hineingehen. Ich denke, dass wir jeweils von unseren Lehrern an der Schultür abgeholt wurden. Die Klassen waren groß, die Lehrer hätten sonst den Überblick verloren und die kleineren Schüler sicher auch.

In der zweiten oder dritten Klasse bekamen wir die schon erwähnte neue Lehrerin, Fräulein Klemm.
Ich erinnere mich an wenig Einzelheiten des Unterrichts, nur dass es mir Spaß machte.
An einen dramatischen Morgen in der Zeit allerdings erinnere ich mich noch ziemlich deutlich. Wir hatten mehrere neue Schüler, alles Jungen und Waisenkinder, die größere Schwierigkeiten bereiteten. Frl. Klemm kam mit ihnen nicht gut zurecht und einer der Jungen warf seine Schultasche in ihre Richtung. So etwas hatten wir noch nicht erlebt. Unsere arme Lehrerin weinte und holte dann wohl auch den Rektor. Die Jungen verschwanden wieder, da sie offensichtlich zu viele Probleme hatten und in "normalen", für sie viel zu großen Klassen nicht genug Hilfe bekamen. Sie müssen Kriegswaisen gewesen sein, waren in einem großen alten Gebäude am Eingang des Reuterwegs, Ecke Marienstraße untergebracht, hatten aber anscheinend keine Lehrer dort.
Wir waren erleichtert, als dieser Spuk vorbei war, aber dennoch dachte ich öfter an diese Jungen, die es sicher nicht leicht gehabt haben in ihrem Leben.

In der dritten Klasse verließen einige Schüler unsere Klasse, um auf eine andere Schule zu gehen, wie ich erst jetzt von Karin H.-R. erfuhr. Ich hatte das völlig vergessen und konnte es mir nicht erklären.
Sie fingen dort mit Russisch Unterricht an, den wir erst in der 5. Klasse begannen. Mir tat es leid, einige dieser Mitschüler zu verlieren, u.a. auch Dietlinde Ewert, die in der Marienstraße wohnte und mit der ich ein bißchen befreundet war. Sie kam einmal zu meinem Geburtstag 1956, im nächsten Schuljahr war sie nicht mehr auf der Goethe Schule.

Ich kann mich nicht mehr genau an die zeitliche Abfolge erinnern, aber irgendwann in den späteren Fünfzigern wurde auch ich Mitglied der Jungen Pioniere, der Kinder-Organisation der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands). Vermutlich war es also 1958. Es gab immer noch einige in der Klasse, die nicht beigetreten waren, meistens die eher "bürgerlichen" Kinder, deren Eltern für das DDR System nicht viel übrig hatten.
Ich war sehr daran interessiert, endlich auch das blaue Halstuch zu tragen und das Abzeichen der Jungen Pioniere an der weißen Bluse zu haben. Es war eine Sache des "Dazugehörens", die politischen Hintergründe der Organisation waren mir nicht klar. Allerdings wurde mir doch etwas beklommen zumute, als wir bei der Aufnahmezeremonie in der Aula auf die DDR Fahne schwören mußten. Ich fühlte mich wohl etwas unwohl dabei, wie dem System "einverleibt". Gleichzeitig hatte ich aber auch Spaß an Aktivitäten wie Altpapiersammeln, "Nachhilfe" für schwächere Schüler geben, im Chor Volkslieder singen (was ich auch schon vorher tat) etc. Es schien alles relativ "unpolitisch" zu sein. Allerdings war der montagliche Fahnenapell schon eher dazu geeignet, sich als guter Pionier hervorzutun.


Ich erinnere mich nur daran, dass ich eine Zeitlang jeden Montag morgen den Fahnenapell "abnahm", also in weißer Bluse, blauem Halstuch und dunklem Rock vor meiner versammelten Klasse auf dem Hof stand, wo alle Klassen im Kreis standen und ich hatte meine rechte Hand auf dem Kopf und rief: "Für Frieden und Völkerfreundschaft - Seid bereit!" Die Antwort kam zurück von der Klasse: "Immer bereit!" Das ging reihum, jede Klasse kam "dran" und dann sagte vermutlich der Schulleiter oder die Schulleiterin etwas, woran ich mich natürlich nicht mehr erinnern kann.
Bei diesen Fahnenapellen machten wir aber auch "Quatsch", kicherten, zogen Kindern vor uns an den Halstüchern und manchmal wurde es einem Schüler oder einer Schülerin auch übel oder jemand fiel in Ohnmacht. Kein Wunder, es dauerte ewig für unser kindliches Zeitgefühl.


Copyright: Gisela Foerstermann 2008




































Tuesday, February 12, 2008

Ausflüge zu Fuß und mit dem Fahrrad


Die Wanderer müssen sich stärken.

Mit Zinns auf der Ottowaldswiese im Thüringer Wald, Himmelfahrt 1954





Ausflug mit der Großmutter Paulmann 1953 und Ausflug zum Inselsberg 1952

Eine weitverbreitete Sonntagsbeschäftigung der Deutschen war und ist der Ausflug in die Umgebung der Stadt oder des Dorfes, wo man wohnt.

Das war auch etwas, das meine Familie sehr oft tat. Eisenach liegt am nördlichen Rand des Thüringer Waldes und da die Stadt nicht groß ist, (ca 50.000 Einwohner damals, jetzt etwas darunter), dauerte es auch nicht lange, in den Wald oder die offenere Landschaft mit Feldern und Wiesen zu gelangen.

Als ich noch sehr klein war, schoben mich meine Eltern im Kinderwagen auf Spaziergängen in den Kartausgarten, einen großen Park mit schönen Bäumen in der Nähe von den Großeltern Förstermann. Oder auch ins Johannistal, ebenfalls nicht weit vom Opa gelegen, ein schönes Tal mit Wiesen, Laub- und Nadelbäumen, das auch zum Burschenschaftsdenkmal und zum Tennisplatz führte, der ab 1954 in der wärmeren Jahreszeit fast ständiger Aufenthaltsort an Wochenenden war.

Sobald ich laufen konnte, wurden nach und nach grössere Strecken zu Fuß bewältigt und ab 1951 machten wir auch häufig Fahrradaufsflüge.


Ausflug im Kinderwagen ins Johannistal

Januar 1949



Meine Eltern hatten noch ihre "Vorkriegsräder", ich wurde auf einen Kindersitz, eigentlich nur ein Sattel auf der Mittelstange des Fahrrads meines Vaters, gesetzt und los ging's in Richtung Johannistal, Mariental und oder Hohe Sonne, zur Mosbacher Linde, zur Weinstrßse und dann in späteren Jahren auch weiter auf dem Rennsteig zum Inselsberg.


Radausflug zur Weinstraße, April 1952



Wir machten diese Ausflüge, wie man an den Fotos sehen kann, mit Freunden oder Leuten vom Tennisclub, Verwandten, wenn sie uns besuchten oder nur zu dritt.

Wir spielten Ball auf einer Wiese oder mit einem Hartgummiring, den man sich zuwarf und entweder mit der Hand oder mit einem Stock oder über dem Unterarm auffing. Ich lernte, Steine "wie ein Junge zu werfen" und war bald recht geschickt in dieser Fertigkeit. In der Schule war ich später fast "berühmt" dafür, "richtig" werfen zu können und auch weit.





Bei den größeren Tagesausflügen wurde das Essen mitgenommen, oft nur belegte Brote, gekochte Eier, Obst, wenn vorhanden und Getränke. Manchmal nahmen meine Eltern auch eine Nudelsuppe in einem Topf mit, die dann über einem kleinen Feuerchen erhitzt wurde. Das war fast wie Camping. Wir fuhren aber immer wieder am Abend nach Hause, die Entfernungen waren nicht so groß und wahrscheinlich wollten meine Eltern auch ihre Bequehmlichkeit. Zudem hatten wir auch keine Campingausrüstung.



Juni 1952

Ich liebte schon von früh an Blumen, deren Namen ich auch schnell lernte.

Mai 1954







Juli '54 auf der Ottowaldswiese, die ich wunderschön fand

Ich pflückte gerne Blumen für meine Mutter, vor allem auch später auf der Wiese beim Tennisplatz.


Unsere regelmäßigen Spaziergänge zur Wartburg waren für mich etwas besonders herrliches. Ich war immer sehr stolz auf "meine Burg", zu der so viele Touristen kamen. Sie gingen auch quer über den Spielplatz, vom Bachhaus kommend, um über die Burgstraße zur Burg zu laufen. Unsere kleine Stadt hatte etwas, das die Leute sehen wollten und ich lebte da und konnte es immer sehen. Ich fühlte mich "privilegiert", natürlich kannte ich dieses Wort nicht, aber das Gefühl.

Die Burg war ungefähr eine halbe Stunde von der Wohnung in der Domstraße entfernt und der Weg dorthin war teilweise recht steil, vor allem der letzte Anstieg zur Burg. Es gab auch die Möglichkeit, zumindest an den Wochenenden, mit einem Esel hoch zu reiten, was mir aber nicht gefiel. Ich habe es einmal probiert und fand es eher beängstigend, da man auf dem Rücken des Esels herumschaukelte. Außerdem roch der Esel stark.


Eselsritt zur Wartburg, mit dem Besuch aus Gera, Eva und Tante Jutta Buschendorf, Juli '53



Wartburg Terrasse mit Cafe



Wir gingen oft später am Tag oder gegen Abend hoch, denn da waren die Touristen meistens weg und wir hatten die Burg "für uns".
Ich wollte immer auf den Südturm der Burg steigen, weil man von dort oben eine herrliche Aussicht hatte. Oder wir gingen auch ab und zu ins Cafe der Burg und saßen auf der Terrasse und aßen Eis.

Auf der Terrasse und auf dem Turm der Wartburg, 1951 und '52




Tante Ursel besuchte uns im August 1952, ein Sommer mit vielen Gästen





Wie meine Patentante Ursel Frank auf die Wartburg kam mit nur einem gesunden Bein und einem Holzbein, ist mir nicht klar. Ich werde sie fragen. Sie war damals 28 Jahre alt, ich viereinhalb.

Wie sie mir nun am Telefon sagte, konnte sie durchaus zur Burg laufen, sicher langsamer als andere Leute, aber sie war jung und kräftig und wanderte auch später immer noch mit ihren Eltern im Bergischen Land. Ich kann sie nur bewundern.

Ein Ausflug im Juni 1954 zum Forsthaus Kissel und Alexanderturm, wo es sehr stürmisch war






und hier beim Forsthaus war es wieder schöner

Ausflüge zum Zweck des Beerensammelns wurden im Sommer und frühen Herbst gemacht. Himbeeren reiften im Hochsommer und Blaubeeren (oft auch Heidelbeeren geannt) Ende August etwa. Diese Beeren waren eine wichtige Ergänzung unseres eher mageren Obstverzehrs. Ich mochte wilde Himbeeren, aber manchmal fand ich eine Beere, in der eine kleine Raupe steckte und das erschreckte mich immer sehr. Ich warf sie dann sofort weit weg, es ekelte mich davor oder ich war einfach erschrocken, etwas lebendiges in der schönen Beere zu finden. Blaubeeren hatten dieses "Problem" nicht, die konnte man einfach in den Mund stecken, ohne sie erst zu untersuchen. Ich hatte zwar auch eine kleines Gefäß, um Beeren für den späteren Genuß zu sammeln, aber viele endeten doch gleich im Mund, da sie zu gut schmeckten. Von den Blaubeeren waren meine Hände und die Lippen blaurot und die Zunge blau wie mit Tinte gefärbt.

Diese deutschen Blaubeeren sind mir immer noch in allerbester Erinnerung. Da die amerikanischen Blaubeeren innen heller sind und erst beim Kochen diesen schönen blauen Saft produzieren, sind sie nicht mit den erinnerten Beeren zu vergleichen, aber ich habe mich an sie gewöhnt und esse im Sommer so viele wie nur möglich. Wir sammeln sie allerdings nicht im Wald, sondern kaufen sie im Laden. Sie kommen von Plantagen. Die hiesigen wilden Blaubeeren sind auch nicht so süß und nur in den höheren Lagen der Berge zu finden.

Im übrigen gab es auch wilde Erdbeeren beim Tennisplatz, von dem noch im Detail zu sprechen sein wird. Ich graste immer alle Stellen rund um die Tennisanlage ab, da ihr Geschmack so wunderbar war.

Einen Ausflug im Sommer 1951 möchte ich noch erwähnen, da er mit der Pferdekutsche gemacht wurde. Die Tante meine Vaters war aus Gera zu Besuch. Ich glaube, Tante Lotte bezahlte für die Kutsche und so machten wir einen größeren Ausflug über den Vachaer Stein, Unkeroda, Wilhelmstal, Hohe Sonne und die Weinstraße. Wir waren zu sechst, meine Eltern, ich, die Großmutter Förstermann, Tante Lotte und Manfred, der Sohn einer Cousine meines Vaters. Manfred war 12 Jahre alt und ich noch nicht vier. Manfred und ich sollten wohl zusammen spielen, aber der Altersunterschied war doch zu groß. Wir waren beide gelangweilt, das kann man auf dem Bild sehen.

Die Droschkenfahrt mit der Verwandtschaft, August 1951





Aber ich nehme doch an, das die Kutschfahrt selbst mir gefallen hat. Auf dem Bild unten sehe ich glücklicher aus.





Mit Manfred Förstermann habe ich vor einigen Jahren Kontakt aufgenommen. Wir hatten uns ja nur einmal gesehen und dann nie wieder. Jetzt hören wir öfter voneinander und telefonieren auch ab und zu.
Ich möchte noch bemerken, dass ich auch später mit meiner Mutter oder beiden Eltern in Frankfurt Ausflüge in den Taunus gemacht habe, auch mit Freunden, die gerne wanderten. Es war ein wichtiger Teil meines Lebens.

Auch hier in den USA haben mein Mann und ich diese Tradition zusammen weitergeführt, sind bis 1996 noch regelmäßig gewandert. Dann verletzte ich meinen linken Fuß und seitdem ist es vorbei mit dem Wandern. Aber da wir ein Ferienhäuschen 160 km östlich von Portland, auf der "trockenen Seite" der Cascades, der Berge hier, haben, kann ich wenigstens ein bißchen auf unserem Grundstück laufen und wir fahren auch Fahrrad in der Gegend und können unserem Interesse an der Natur auf diese Weise nachgehen.



Copyright: Gisela Förstermann 2008


Monday, February 11, 2008

"Sommergewinn" und andere Jahrmärkte

Auf dem Sommergewinn Jahrmarkt, März 1953





Jedes Jahr, wenn sich der Februar seinem Ende näherte und der Schnee langsam aber sicher immer mehr zu Wasser wurde, konnte man auch bald an das kommende "Sommergewinn" denken. Es fand und findet immer noch am 20. oder 21. Maerz statt, dem offiziellen Beginn des Frühlings. Freilich war es zu dem Zeitpunkt oft noch recht kühl und unwirtlich.

(Hier hat sich ein Irrtum meinerseits eingeschlichen, den Karin Roehler (ehemals Husemeyer) gerade (Febr. 08) berichtigte: Das Sommergewinn findet immer 3 Wochen vor Ostern statt, ist also "beweglich". Ich hatte davon keine Ahnung, bin immer davon ausgegangen, dass es am Frühlingsanfang stattfindet. Dieses Jahr also schon am 1. März, wie sie mir sagte. Danke, Karin.)

Wir gingen in den frühen Fünfziger Jahren noch regelmäßig zum Umzug, der durch die Georgenstraße von der Weststadt zum Markt führte. Dort fand dann das "Streitgespräch zwischen dem Winter und der Frau Sonne" statt. Eine Strohpuppe der Figur des Winters wurde in einer mittelalterlich anmutenden Zeremonie spaeter am Nachmittag auf dem Jahrmarkt in der Katharinenstraße verbrannt.

Das Kind auf der rechten Seite des Fotos, auf der Schulter des Vaters sitzend, bin ich



Wir gingen zu den Zinns, die einen Laden direkt am Markt hatten und auch im selben Gebäude wohnten. Sie waren Mitglieder im Tennisclub und luden alle ein, die ein Interesse hatten, den Umzug von ihren Fenstern aus von oben zu sehen. Auf diese Weise waren wir weniger dem möglicherweise kalten Wetter ausgesetzt, aßen auch Kuchen, der angeboten wurde und amüsierten uns sehr.


Der Festwagen des Winters


Das Sommergewinn hat angeblich germanische Wurzeln, aber es wurde erst seit ca 1700 wieder belebt und zwar von "armen Leuten vor dem Georgentor. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an entwickelte sich in Eisenach das alte Frühlingsfest mit dem Winteraustreiben und der Frau Sunna bis heute zu einem der letzten deutschen Feste dieser Art.
Seit 1897 ziehen die Festzüge des Sommergewinns alljährlich durch den Ehrensteig mit seinem farbenfohen Häuserschmuck." (aus: Eisenach Stadtführer, Herausgeber Eisenach Information, Hitzeroth Verlag, 1990)





Die Festwagen von Zinns aus gesehen


Nach dem Umzug ging die ganze Familie und auch einige der Freunde zur Katharinenstraße, wo der zum Sommergewinn gehörende Jahrmarkt aufgebaut war. Das war für mich der interessanteste Teil.
Auch dort kannten meine Eltern eine Frau vom Tennisclub, Frau Seedorf, die mit ihrem Sohn in einem Haus direkt am Jahrmarkt wohnte und die netterweise alle möglichen Freunde eingeladen hatte. (Auch sie hat in den Fünfziger Jahren die DDR verlassen, wie Karin mir bestätigte.) Es gab Berge von flachen Hefekuchen mit Obst oder Streuseln, Mohn oder anderen guten Dingen.
Ich ging dann mit meinem Vater hinunter zum Jahrmarkt, um mir die Buden und Karussells anzuschauen, während meine Mutter mit den Damen Kaffeeklatsch hielt.


Auf dem Karussell, was mir wohl ein bisschen unheimlich war





Das Riesenrad, auf das ich nie wollte, aber es sah schön aus





Die Luftschaukel, auch Schiffschaukel genannt, die ich sehr liebte und später oft auch allein benutzte



Das Sommergewinn war jedes Jahr wieder aufs neue schön für mich. Es gab Zuckerwatte, Thüringer Rostbratwürste und andere ungesunde Dinge, die wir alle gerne aßen. Vor manchen Buden standen Losverkäufer und ab und zu gewann ich ein kleines Spielzeug, so auch auf dem Foto oben, auf dem ich so glücklich grinse. Ich kaufte mir auch manchmal Murmeln auf den Jahrmärkten, vor allem die schönen Glasmurmeln.
Später, als ich schon zur Schule ging, machte ich auch alleine nachmittägliche Ausflüge in die Katharinenstraße zum Jahrmarkt. Ich ging auf die Schiffschaukel, manchmal mit einem anderen Kind, oft allein und fand das ganz himmlisch.
Natürlich gab es auch junge Männer, die mit der Schaukel Überschläge machten, also so stark in der Schaukel in Gang kamen, dass die Schaukel sich völlig um sich selber drehte. Sie standen dann für eine Sekunde "auf dem Kopf", bevor sie sich überschlugen nach der anderen Seite. Das war gewagt, aber auch an bestimmten Schaukeln erlaubt, die keine Hemmschwelle eingebaut hatten. Wir Kinder fanden das sehr abenteuerlich und bewunderten diese Kerle.

Karusselfahren war nicht meine Sache, mir wurde nur schwindlig davon, aber ich guckte gerne zu, auch vor dem Riesenrad stand ich gerne, aber das auszuprobieren, ging über meine Kräfte. Ich war nicht bereit, einen Fuß in dieses unheimliche Ding zu setzen. Ich erwartete, dass mir schlecht würde. Da das Rad sich aber ziemlich langsam drehte, wäre das bestimmt nicht passiert, aber ich war ängstlich, wenn es um solche von der Erde abgehobenen Dinge ging. Nur einmal im Leben, in Frankfurt, drehte ich ein paar Runden auf einem Kettenkarussell, was mir ganz gut gefiel und mir wurde auch nicht übel.
Meine Eltern ermutigten mich auch nicht, Karussell zu fahren. Eigentlich schade, aber ich hatte meine "Prioritäten", die Schiffschaukel, die Buden anzuschauen, der Drehorgelmusik der Karussells zuzuhören und die ganze Stimmung des Jahrmarktes mit Gerüchen und Geräuschen in mich aufzunehmen.
Das Sommergewinn wurde schon gegen Ende der Fünfziger Jahre zunehmend zum politischen Instrument fuer die SED. Einige Festwagen hatten immer häufiger politsche Themen. Die Jungen Pioniere marschierten mit, die Partei bestimmte mehr und mehr die Inhalte. Es ging nicht mehr nur um das Ende des Winters, den Frühling und Sommer, sondern um die krampfhafte Einführung von politischen Parolen. Es wurde langweiliger. Der Jahrmarkt blieb zum Glück der gleiche, nicht aber der Umzug.
Ich glaube, wir gingen nicht mehr so oft zu dem Umzug in den letzten Jahren in Eisenach, ich ging aber allein auf den Jahrmarkt.
Der folgende Text aus dem Heftchen zum Sommergewinn 1968 zeigt, dass der Klassenkampf usw. nie weit entfernt war. Er wurde überall eingewoben, egal, ob zum Thema passend oder nicht. Das hatte schon früher als 1968 begonnen, es war auch sicher dominierender geworden, aber es war schon zu unserer Eisenacher Zeit sichtbar.
Ich kann mich erinnern, dass die Erwachsenen bei den Zinns Witze darüber machten. Es wurde nicht ernst genommen, allerdings nicht unbedingt in der Öffentlichkeit, wenn Fremde hören konnten, was man sagte.
Die anderen Jahrmärkte, die regelmäßig auf dem Marktplatz bei der Georgenkirche und dem Rathaus stattfanden, waren für mich ebenfalls herrliche Gelegenheiten, meiner Freude daran zu frönen. Sie waren kleiner als der Sommergewinnsmarkt, aber näher und immer voller interessanter Dinge und Gestalten.
Ich erinnere mich besonders an einen Stand, der einer stattlichen Frau gehörte, die immer irgendwelche Haushaltsmittelchen zum Putzen oder Geräte zum schneiden von Gemüse etc. anpries. Sie stand unter einem grossen Schirm vor ihrer Ware und zeigte, wie man sie benutzte. Immer hatte sie eine größere Gruppe von Zuhörern, vor allem auch Männer, die ihr Scherze zuriefen, die ich meistens nicht verstand und die sicher anzüglich waren. Sie aber hatte einen grossen Mund und gab es ihnen schlagfertig zurück. Sie war witzig und hatte eine laute Stimme, ein richtiges Marktweib der alten Schule.
Ich war begeistert, sie immer wieder anzutreffen und ich glaubte, sie erkannte mich auch oder zumindest bildete ich mir das ein.
Einmal gab es auch einen Stand mit "Türkischem Honig". Mein Vater war wohl mit mir auf dem Markt und kaufte mir ein Stück, eingewickelt in Papier und wahnsinnig klebrig und süß. Er hatte das schon als Kind gekannt und dachte, ich mochte es auch. Das Zeug tropfte aber überall hin und verklebte die Hände, die Kleidung, die Zähne, einfach alles, obwohl mir die Farben des "Honigs" gefielen.
Dieser Stand war auch nur einmal auf dem Jahrmarkt, sicher zur Erleichterung vieler Mütter.
Dann gab es noch Stände, bei denen man 4 oder 5 Ringe über ausgestellte Preise wie z.B. Weinflaschen oder Plüschtiere der billigsten Art werfen konnte. Diese Reifen mußten über diese Preise fallen und nicht daneben, dann konnte man den Preis gewinnen. Ich weiss nicht mehr, ob mir das verlockend genug erschien, um 20 Pfennige auszugeben, aber zugeschaut habe ich, ob andere etwas gewinnen würden und es auch vielleicht einmal probiert, natürlich, ohne zu gewinnen.
Lose habe ich auch gekauft, da waren die Chancen für einen Gewinn zwar auch nicht viel besser, aber es war einfacher und die Preise waren niedriger por Los.
Ich habe solche und auch andere Arten von Märkten, Weihnachtsmärkte, Gemüsemärkte, Jahrmärkte, was auch immer nach Markt aussah, immer gerne besucht. Sie hatten etwas exotisches, das mich sehr anlockte. Als ich dann 1970/'71 in Asien war, habe ich viele der orientalischen "Basare" besucht und dann später in Frankfurt auch noch von diesen geheimnisvollen Orten geträumt.
Selbst hier in Amerika gibt es wieder mehr Märkte, Farmers Markets, die ich im letzten Jahr hier in Portland wiederentdeckte. Sie sind bunt, lebendig und haben Vielfalt und gute Qualität an Obst und Gemüse, Brot, Käse, Fisch usw. Ich gehe aber nicht nur wegen des Einkaufens dorthin, sondern wegen der Unterhaltung, des Leute-Beobachtens, wegen des "Exotischen", das Märkte für mich haben.


Copyright: Gisela Foerstermann 2008








































Thursday, February 7, 2008

Frankfurt am Main: Das Goethe Gymnasium




Das 1959 gebaute neue Goethe Gymnasium. Das alte Gebäude war im Krieg zerstört worden

Es mußte bis zum Herbst 1960 eine Schule, d.h. ein Gymnasium, für mich gefunden werden Meine Mutter machte sich kundig und fand das Goethe Gymnasium im Westend der Stadt, wo man auch Russisch lernen konnte, das ich ja schon für mindestens ein Jahr in Eisenach gelernt hatte. Ich wollte das auch weiter machen. Und ich wollte auf keinen Fall auf ein Mädchengymnasium, denn ich war an gemischte Klassen gewöhnt. Wir hatten ein Gespräch mit dem Schulleiter und kamen überein, dass ich in die Quinta kommen würde, obwohl ich dann ein Jahr Englisch nachholen müßte, das schon in der Sexta unterrichtet wurde, die ich ja versäumt hatte. Ich war sowieso schon älter, da ich wegen meines Geburtsdatums im Oktober erst mit fast sieben Jahren 1954 in die Eisenacher Schule gekommen war. Ich wollte nicht mit noch Jüngeren in der Klasse sitzen. Allerdings war die sechste Klasse der Eisenacher Schule viel weniger anspruchsvoll gewesen als die im Gymnasium in der Großstadt Frankfurt. Die Quarta, also die siebte Klasse, wäre auf jeden Fall zu schwer für mich gewesen. Nun kam ich also in die Quinta (d.h. die 6. Klasse) des Gymnasiums, denn sonst hätte ich zwei Jahre Englisch nachholen müssen.






Der Schulhof der Schule



Mir gefiel übrigens die moderne Architektur des Gymnasiums damals sehr. Die alte Goethe Schule in Eisenach erschien dagegen eher wie eine Kaserne oder ein Gefängnis auszusehen. Aber innen im Gymnasium herrschte nach wie vor der alte Drill, trotz moderner Architekur.


Ich fuhr in den ersten Monaten nach Schulgebinn von Niederrad aus mit der Straßenbahn zur Schule, eine vielleicht halbstündige Fahrt, je nach Anschluß an eine Bahn, die vom Hauptbahnhof bis zur Schule in der Friedrich-Ebert-Anlage fuhr. Als wir dann im Nordend wohnten, mußte ich durch den Anlagenring zum Eschersheimer Turm laufen und von dort mit einer Bahn zum Bahnhof oder zur Hauptwache fahren und von da mit einer anderen Bahn zur Schule. Beide Strecken waren eine "Reise", verglichen mit den fünf Minuten zu Fuß zur Goetheschule in Eisenach. Es gab auch oft genug Männer, die mich "betatschten" oder Exhibitionisten in den Bahnen. Ich war nicht beherzt genug, mich gleich lautstark zu beschweren, das machte man damals nicht und so konnten diese ekligen Typen weiterhin ihr Unwesen treiben.



Der Frankfurter Hauptbahnhof

Für einige Monate ging ich nach der Schule in den Kinderhort, der gegenüber vom Gymnasium im Gebäude der evangelischen Matheus Gemeinde war. Allerdings war die Betreuung langweilig und dann auch höchst unangenehm für mich. Der Sohn der Betreuerin war sehr aggressiv und schlug mich mit einem Schlüsselbund an einem Strick an die Beine. Er war, glaube ich, etwas jünger als ich und völlig außer Kontrolle. Meine Mutter arrangierte dann, dass ich zu ihr zum Arbeitsamt kommen konnte nach der Schule. Sie hatte ja relativ schnell eine Stelle als "Schreibkraft" dort bekommen. So fuhr ich nach der mißlungenen Hortzeit jeden Tag nach dem Unterricht mit der Straßenbahn zum Arbeitsamt, um dort mit meiner Mutter in der Kantine zu Mittag zu essen. Dann lief ich langsam oder schneller, je nach Laune, nachhause, hörte Radio, oft den amerikanischen Soldatensender AFN (!) und machte Hausaufgaben, sofern ich Lust dazu hatte. Meine Klassenlehrerin Frau Schmidt in der Quinta fand einen Tutor, er hieß Hartmut S. und war ein Schüler in einer höheren Klasse, der mich ins Englische einführte. Es kostete, glaube ich, 1,50 DM pro Stunde, die Schule trug die Kosten. Ich hatte erst einmal größere Schwierigkeiten mit der englischen Aussprache der Konsonanten th, r und l, etc. und die Ungeduld des nicht gerade freundlichen älteren Schülers halfen mir ganz und gar nicht. Er trommelte immer mit den Fingerspitzen an die Fensterscheibe, eine Angewohnheit, die mich sehr nervös machte. Ich weiß nicht mehr, wie lange dieser einstündige Unterricht nach der Schule dauerte, ein halbes Jahr oder ein ganzes Jahr. Aber ich stieg nach und nach in den eigentlichen Englisch Unterricht bei Frau Schmidt ein und es wurde leichter für mich. Sie war eine nette, ältere Frau, die dann leider in Rente ging. Den ehemaligen Tutor sah ich viel später in den Siebziger und Achtziger Jahren öfters in der Leipziger Straße im Stadtteil Bockenheim , als ich studierte und dann auch dort wohnte. Er hatte immer noch den gleichen, kalten Blick und war wohl Anglist an der Universität. Natürlich gab es kein Wort des Erkennens, wie das so bei den Deutschen üblich ist, die sich nicht "grün" sind. Wir bekamen in der Quarta einen neuen Klassenlehrer, Herrn Dr. Bernstein, der auch unser Englischlehrer war und mit dem ich ganz gut zurechtkam. Auch meine Noten waren nicht schlecht. Er hatte wohl den Krieg in England verbracht und war dann wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Er war neben Herrn Hebel, dem Deutschlehrer, einer der nettesten Lehrer. In dem Schuljahr kam auch Latein in den Stundenplan und machte mir das Leben an der Schule wieder etwas schwerer. Der Lehrer war streng, aber anständig und fair, bloß die lateinische Grammatik war es meiner Meinung nach nicht. Insgesamt war der ganze Unterricht in allen Fächern natürlich viel schwieriger und anspruchsvoller als in der Goethe Schule in Eisenach. In meiner Klasse gab es einige Schüler, die mir wie kleine Professoren vorkamen. Einer besonders, Stefan S., Sohn eines Arztes oder eines Rechtsanwaltes, konnte ganze Vorträge halten wie ein Erwachsener. Zumindest war das mein Eindruck. Es imponierte mir, schüchterte mich aber auch sehr ein. In Eisenach war ich eine gute Schülerin gewesen, ging gerne in die Schule und war beliebt. Hier, im "goldenen Westen" sah das nun alles ganz anders aus. Zu den Lehrern ist noch zu sagen, dass relativ viele Kriegsveteranen waren und sich das auf ihre Pädagogik auswirkte. Einige waren sehr jähzornig und in pädagogischer Hinsicht natürlich völlig unbedarft.

Der Mathematiklehrer in der Quinta und vielleicht auch in der Quarta, ein Herr Dr. Reiz, war ein sehr korrekt gescheitelter, grauhaariger und sehr strenger Lehrer, der des öfteren den Zeigestock benutzte, um damit unaufmerksame Schüler leicht oder auch weniger leicht am Kopf anzustoßen. Von ihm ging das Gerücht um, dass er jeden Tag von Oberursel, schon fast im Taunus, zur Schule lief. Er trug oft einen grauen Kleppermantel, passend zu seiner ganzen grauen Erscheinung. Mit solchen gestrengen Lehrern hatte ich bisher nichts zu tun gehabt, dementsprechend war ich ängstlich, auch weil das vieles über meinen Kopf hinwegging und ich vollkommen überfordert war.


In Eisenach gab es viel mehr Lehrerinnen, was aber sicher damit zu tun hatte, dass es eine Grundschule war. Außerdem wurden die Lehrer in der DDR nach ihrem politischen Standpunkt und ihrer Vergangenheit in der Nazizeit ausgesucht und dann kurz ausgebildet, um den Bedarf für neue Lehrer zu decken. Am Gymnasium in Frankfurt hatte ich nach Frau Schmidt in der Quinta nicht eine einzige Frau als Lehrerin, höchstens im Sport. In der Untertertia kam Französisch hinzu, nun waren meine Kapazitäten für Fremdsprachen erschöpft. Ich "baute ab". Ich mußte aber nur ein Jahr Französisch nehmen, es war kein Pflichtfach mehr. Ich hatte genug zu tun mit den anderen Fächern. Hinzu kam, dass die Klasse selbst von Anfang an sehr stark von "Klassenunterschieden" geprägt war. Die Hälfte der Kinder in der Klasse kamen aus wohlhabenden Familien, wohnten im Westend, einem sehr bürgerlichen, immer noch elegantem Viertel mit Häusern der Jahrhundertwende in schönen Straßen mit großen, alten Bäumen. In der anderen Klassenhälfte befanden sich Mittelschichtkinder und Arbeiterkinder, die meisten von ihnen wohnten nicht im Westend. Ich gehörte auch zu diesen Kindern, die zu dieser Schule entweder wegen besonderer Begabung gingen, oder weil sie aus der DDR kamen und an der Schule Russisch weitermachen konnten, falls sie das wollten. Am Tag der Einschulung wurden noch zwei oder drei andere Kinder in dieselbe Klasse eingeführt und vorgestellt. Unter ihnen waren Zwillinge, Susanne und Doris E., die von einer anderen Schule in Frankfurt zum Goethe Gymnasium gekommen waren.



Meine "Oststrickjacke". Das Foto wurde noch vor der Flucht aus Eisenach gemacht. Damals wußte ich wohl schon, dass wir in den Westen gehen würden




Ich weiß nicht mehr genau, ob folgende Begebenheit gleich nach dieser Vorstellung in der Klasse passierte, oder einige Tage später. Jedenfalls machte mich Susanne darauf aufmerksam, dass ich besser aussehen würde, wenn ich meine Ärmel meiner bescheidenen DDR Strickjacke, die ich zu Rock und Bluse trug, doch hochziehen würde bis zum Ellenbogen. Das sei viel schicker. Ich war baff und war mir sofort bewusst, dass Aussehen und Kleidung im Westen eine wesentlich größere Rolle spielten als im kleinen Eisenach in der DDR. Ich fühlte mich verunsichert und auch verletzt, so, als würde ich als Person, besonders als jemand aus der DDR, nicht anerkannt und vielleicht gar abgelehnt. Es war eine schmerzliche Erfahrung, die ich bis jetzt nicht vergessen habe. Susanne mag es gut gemeint haben und wollte mir mit ihrem Modehinweis sicher helfen, so aber hatte ich es nicht aufgefasst. Wir waren trotz allem eine Zeit lang befreundet, sie war eigentlich nett, lustig und hübsch dazu, im Unterricht verträumt und irgendwie abwesend, im Gegensatz zu ihrer Schwester. Später wurde unsere Klasse geteilt und wir verloren ein bißchen den Kontakt zueinander. Viele Jahre später trafen wir uns immer mal auf der Straße und sie war immer sehr elegant, im Gegensatz zu mir; so empfand ich es jedenfalls. Sie war Fotografin geworden. Und sie nähte ihre Kleidung selbst, was ich fast nicht glauben konnte. Noch einmal wurde ich von ihr auf mein mangelndes Modebewusstsein hingewiesen, als 1988 meine Mutter gestorben war und mein Mann und ich von Portland nach Frankfurt flogen. Susanne hatte mich per Brief gefragt, ob ich für ein paar Fotos zur Verfügung stehen würde, die sie für eine Broschüre brauchte. Sie würde mich auch dafür bezahlen und natürlich sagte ich zu. Als sie mich dann traf, gab sie mir zu verstehen, dass meine Jacke und mein ganzes Aussehen ihr für das Foto nicht genügten. Ich war offensichtlich nicht schick genug für diese Gelegenheit. Da ich dabei war, die Asche meiner Mutter zu begraben, schien mir ihre Kritik besonders verletzend. Mein Mann hat dann meine Rolle für ihre Fotos übernommen. Er war offensichtlich schicker als ich. (Wir hatten für einige Jahre E-mail Kontakt, vielleicht seit 1998, und ab und zu führten wir Telefongespräche, wir waren uns also nicht so fremd geworden. Sie war die einzige "Ehemalige" vom Goethe Gymnasium, zu der ich noch Kontakt hatte. Ich habe allerdings seit einiger Zeit nichts mehr von ihr gehört, aber wer weiß, ob das etwas mit dem oben im Blog Veröffentlichten zu tun hat. )


Wie gesagt, spielten schon damals Kleidung und Aussehen an dieser Schule eine Rolle und ich konnte nie mithalten und hatte auch gar kein Interesse daran. In den ersten ca. zwei Jahren ich ich mit einer polnischen Klassenkameradin befreundet. Therese P., die mit ihrer Familie von Polen nach Israel ausgewandert war und dann nach Deutschland kam, wohnte auch im Add VideoNordend und ich verbrachte häufig Nachmittage mit ihr. Sie gab mir viele israelische Briefmarken und wir verstanden uns recht gut. Sie war sehr klug und hatte im Gegensatz zu mir keinerlei Schwierigkeiten in der Schule, im Gegenteil, sie hatte in allen Fächern gute Noten und wechselte nach und nach zur anderen Klassenhälfte rüber. Sie war im Westen "angekommen", während ich mit Heimweh kämpfte und die Schule eigentlich hauptsächlich haßte. Ich muß gestehen, dass ich meine negativen Gefühle an einer Mitschülerin ausließ, die ein bißchen eigenartig war. Sie war schüchtern, unsicher, hatte ein fliehendes Kinn und leckte andauernd über ihre Lippen, wenn sie nervös war. Sie hieß wie ich, Gisela, wurde aber von allen Lieschen gerufen, ihr Nachname war Müller. Und ein "Lieschen Müller" war mehr oder weniger eine Beleidigung, nämlich für ein unbedarftes, bescheidenes, vielleicht sogar dummes Mädchen. Sie hatte sich ganz am Anfang um mich gekümmert, als ich ganz neu in der Klasse war. Vermutlich tat sie das auch, weil sie isoliert war und oft gehänselt wurde. Sie suchte eine Verbündete, fand sie aber dann doch nicht in mir , weil ich selber eine Außenseiterin war, das aber nicht sein wollte. So ahmte ich sie nach, machte mich lustig über sie und und habe sie "gemobbt", wie das heute heißt. Gleichzeitig wollte ich aber auch von ihr abschreiben, denn sie war in Mathematik und vielleicht auch in anderen Fächern besser als ich. Ich saß eine Zeitlang neben ihr. Sie ließ das nicht zu und das vollkommen zu Recht, ich war ja richtig fies zu ihr. Als wir einmal im Schullandheim waren, ging mein "mobbing" anscheinend selbst einigen anderen Mitschülerinnen zu weit. Entweder sagten sie etwas nur zu mir oder auch zum Lehrer. Möglicherweise drohten sie, dass sie es dem Lehrer sagen würden, wenn ich nicht damit aufhören würde. Das war eine seltene Unterstützung für einen "underdog" und ich habe auch daraus gelernt und sah ein, dass ich damit aufhören müßte.


Meine Schwierigkeiten im Unterricht fingen schon früh an, im Musikunterricht. Einige Schüler spielten Flöte, alle hatten Noten gelernt und konnten sie auch lesen. Ich hatte das bisher nicht gelernt, war aber im Schulchor in der Goetheschuele in Eisenach gewesen und sang gerne. Hier im Gymnasium schien das wenig zu gelten, wichtiger war anscheinend die Theorie, die man beherrschen mußte. Es war wie Mathematik, meine größte Schwachstelle. Also mußte ich Nachhilfe in Musik bekommen. Es war lächerlich und aller Spaß am Singen verging mir. Es war nur Quälerei für mich. So ging es mit den Jahren immer weiter bergab in der Schule und mit den Noten. Ich war nur in Deutsch, Kunst, Biologie, Erdkunde, Englisch, Religion und vielleicht noch Sozialkunde gut. Wir hatten in der Obertertia einen neuen Klassenlehrer, Herrn Lortz, bekommen, einen Bayer aus Franken. Er war auch der Mathematiklehrer, der mich, so oft er konnte, mit meinem Nachnamen mit rollendem R aufrief. Es war wie beim Militär. Ich war total eingeschüchtert und unmöglich an der Tafel und bekam ständig Fünfen in Mathematik. Ich empfand ihn als richtigen Leuteschinder, so dass mein Vater sogar einmal mit ihm sprach und ihn wohl bat, mich etwas freundlicher zu behandeln, was aber zu nichts führte. In Mathematik, Latein, Chemie und Physik waren meine Noten katastrophal, zumindest vor meinem Abgang von der Schule mit der mittleren Reife. Ich sollte nur in die Obersekunda versetzt werden, wenn ich in den Kunstzweig gehen würde für die letzten drei Klassen vor dem Abitur. Diesem Zweig hing der Geruch der Dummheit an, vor allem deshalb, weil dort alle diejenigen landeten, die mit Mathematik, Physik, Chemie und Latein nicht zurechtkamen. Dies waren die "wichtigen, schwierigen" Fächer, Kunst war etwas für Dumme und "Sitzenbleiber". Man würde sozusagen ein Abitur zweiter Klasse, das "Abitur für Dumme" machen. So empfand ich es jedenfalls damals. Dieses Stigma wollte ich nicht auch noch ertragen müssen und lieber eine Lehre machen und, wie ich mich schon entschieden hatte, Buchhändlerin werden, als weiterhin in dieser Schule zu leiden und als schlechte Schülerin zu gelten. Das einzig Positive war, dass unser Deutschlehrer für mehrere Jahre, Herr Hebel, sehr gut war und mich an die Literatur heranführte, meine Aufsätze schätzte und mir öfter gute Noten gab und mich damit ermutigte. Er war dagegen, dass sich die Schule verließ. Er meinte, dass ich Bücher ja weiterhin lesen könnte, sie nicht unbedingt verkaufen müßte, um sie zu mögen. Damit hatte er schon recht, aber ich konnte und wollte an dieser Schule nicht mehr weitermachen. Er konnte weder mich, noch meine Eltern davon überzeugen, bis zum Abitur durchzuhalten. Drei Jahre waren eine lange Zeit, ich hatte die Nase voll.


Der Taunus, das Schullandheim in der Mitte

Wenn man das alles liest, so muß man denken, dass es in meinen fast fünf Jahren am Goethe Gymnasium nur Unangenehmes gab und mir nichts Spaß machte. So stimmt das natürlich nicht, wenn auch in meiner Erinnerung das Negative zu überwiegen scheint. In den ersten zwei oder drei Jahren wurde jährlich eine Fahrt mit dem Bus zum Schullandheim bei Oberreifenberg im Taunus gemacht. Der Aufenthalt dort dauerte circa eine Woche. Ich weiß noch, dass ich eigentlich überhaupt nicht mitfahren wollte, aber dann überzeugte mich jemand, entweder meine Eltern oder ich mich selbst, es doch zu tun. Und so schrecklich, wie ich es mir vorstellte, war es nicht.
Schullandheim des Goethe Gymnasiums im Taunus bei Oberreifenberg


Natürlich gefiel mir gar nicht, dass wir zu acht in einem Zimmer schliefen. Als Einzelkind war ich solchen nächtlichen Trubel nicht gewöhnt und schlief sehr schlecht. Es gab aber eine Tischtennisplatte in einem Raum und ich spielte dort öfters mit einem der Jungen, weil die Mädchen nicht so recht spielen konnten. Wir machten Wanderungen und Ausflüge nach Oberreifenberg oder zum Feldberg. Das war zwar nicht der Thüringer Wald, aber immerhin waren wir in der Natur und die Luft war wesentlich besser als in Frankfurt. Der Taunus wurde dann auch ein Ausflugsziel für meine Familie, das war immerhin ein erfreuliches Ergebnis.


Im Landheim im März 1962, mit Gabi H. und Ingrid K.


In einer Zelt Jugendherberge in Traben-Trarbach an der Mosel


In den weiteren Jahren machten wir Klassenfahrten nach Trier, Fulda und nähere Umgebung und in die fränkische Schweiz. Während der Fahrt nach Fulda fuhren wir auch nach Philipstal in der Nähe der DDR Grenze, um die deutsche Teilung aus nächster Nähe zu betrachten. Für mich war das ein sehr trauriger Ausflug, denn auf der anderen Seite der Grenze war Thüringen und Eisenach also nicht sehr weit entfernt. Mein Heimweh war heftig. Erstaunlicherweise wurde mir nie die Gelegenheit gegeben, über meine Erfahrungen als DDR- Flüchtling zu sprechen. Vielleicht signalisierte ich auch, dass das für mich zu schwer und zu emotional wäre. Jedenfalls gab es keine Diskussionen über persönliche Erfahrungen. Zu dem Zeitpunkt war ich wohl auch die einzige Schülerin aus der DDR in der Klasse. Zumindest nahm mein Lehrer Dr. Bernstein Rücksicht auf meinen Wunsch, einen Tag allein zu sein, während der Rest der Klasse einen anderen Ausflug machte.



Wir waren damals in der hübschen kleinen Fachwerkstadt Schlitz in Nordhessen und mir gefiel es dort sehr gut. Wir waren in einem Gebäude aus der Renaissancezeit untergebracht, das als Jugendherberge eingerichtet war. Es gab wunderschöne Türen mit Einlegearbeiten aus Elfenbein und Ebenholz, die ich sehr bewunderte. Das Städtchen muß mich wohl etwas an Eisenach erinnert haben, ich habe es bis heute noch vor mir als eine der positiven Schulerinnerungen. Mein Mann und ich haben in den späten achtziger Jahren Schlitz noch einmal besucht und ich hatte den Eindruck, dass es sich nicht verändert hatte .

Die Jugendherberge in Schlitz


Eine der Türen in der Jugendherberge





Ich fand auch in der Klasse einige Mädchen, mit denen ich mich anfreundete. Wir luden uns gegenseitig zum Geburtstag ein und verbrachten Nachmittage miteinander. Unter ihnen war auch Susanne E., die ich schon erwähnte. Sie wohnte zuerst in Bonames, einem nördlichen Vorort von Frankfurt. Trotz der Entfernung besuchte ich sie öfters. Ihre Familienverhältnisse waren denen in meiner Familie auch ähnlich. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, bzw. die Eltern hatten sich getrennt und die Zwillinge hatten einen Stiefvater. Susanne war wohl die einzige, der ich damals von meinem Vater und seinen Affären und der Flucht erzählt habe.


Zu meinem Geburtstag 1962 oder 63 kamen Ingrid K., Gabi H., Tante Ursel und Therese P.




Mit einem anderen Mädchen, Gabi H., die im Ostend wohnte, verband mich das Interesse an Filmen. Wir sahen einige der großen Hollywoodschinken, wie "Vom Winde verweht", "Westside Story" und "Lawrence of Arabia" und andere zusammen. Alle Mädchen in der Klasse waren von "Vom Winde verweht" begeistert, ich von Clark Gable, andere von Vivien Leigh, die Scarlett O'Hara spielte. Dann kamen Elvis Presley, die Beatles und andere Rockgruppen. Ich konnte mich dafür damals noch nicht begeistern, mir schien diese Musik primitiv und nur laut zu sein. Es dauerte Jahre, bis ich die Beatles schätzen lernte. Ich mochte die "Amimusik", die ich im AFN hörte und hielt außerdem zu Bach und Mozart, woran man sicher den Einfluss meiner Eltern erkennen konnte. Aber Bach war ja auch Eisenacher und ein Genie und Mozart war Salzburger und ebenso ein Genie. Eisenach und Salzburg waren meine beiden "Heimatorte", wörtlich und emotional gesehen.










Ingrid K., Gabi H. und Claudia I. bei uns, wahrscheinlich zu meinem Geburtstag, ca. 1963 oder 1964. Mein Vater schenkte Eierlikör ein.



Während die meisten anderen Kinder in der Klasse in den Sommerferien entweder in die Alpen, nach Italien oder Spanien fuhren, fuhr meine Familie für lange Zeit immer nach Hallein, 15 km südlich von Salzburg in Österreich, wo es mir außerordentlich gut gefiel. Aber das ist ein anderes Kapitel. An dieser Stelle möchte ich auch erwähnen, dass im ersten oder zweiten Jahr in Frankfurt, vermutlich 1961, mein Vater wieder "in den Schoß der Familie" zurückkehrte, an den genauen Zeitpunkt kann ich mich nicht erinnern. Jedenfalls nahm ihn meine Mutter sozusagen wieder auf, möglicherweise hatte sie ihn auch darum gebeten, sich auch um mich zu kümmern oder wieder zurückzukommen, weil ich immer renitenter und schwieriger wurde. Dagegen spricht allerdings, das seine wesentlich jüngerer Geliebte und gleichzeitige Cousine einen Freund hatte, der wohl eines Tages in ihrer gemeinsamen Wohnung aufgetaucht war und mein Vater diese Situation vermutlich nicht ertrug. Ich war überhaupt nicht darüber erfreut, sträubte mich sogar sehr dagegen, aber nach und nach gewann er mich wieder zurück und ich akzeptierte es.

Die Ferien in Hallein bei Salzburg waren ein Teil dieses ''Familienpakets", ebenso der Sport, dass Tennisspielen und das Skilaufen im Taunus oder Wanderungen.

Meinen Erinnerung und Erfahrungen nach verbesserte die Rückkehr meines Vaters zwar nicht die Ehe meiner Eltern, gab mir aber möglicherweise eine gewisse Stabilität.

Was war sonst noch positiv an der Zeit im Goethe Gymnasium? Der Kunstunterricht zum Teil, Werkunterricht, auf alle Fälle der Deutschunterricht bei Herrn Hebel, ich fing an Thomas Mann zu lesen, ich mochte auch Biologie und Erdkunde. Und ich ging oft und sehr gerne nach der Schule ins Kino, um der Realität der Schule und des Elternhauses zu entfliehen.


Copyright: Gisela Förstermann 2010

Monday, February 4, 2008

Die Flucht in den Westen





Karlsplatz und Nikolaikirche und Nikolaitor in Eisenach

Die Großeltern Förstermann auf ihrem Balkon und im Wohnzimmer


Das Haus in der Kapellenstrasse

Die Stadt und die Großeltern, die ich erst 1967 wiedersah



Dieses Kapitel ueber die Flucht in den Westen wollte ich eigentlich erst später angehen, da mir auch ein bisschen davor graut und es noch viele andere Themen und Lebensbereiche gibt, die meine ersten 12 1/2 Jahre in Eisenach ausmachten.
Da ich aber eine ehemalige Mitschülerin der Goetheschule in Eisenach mit Hilfe einer anderen "Ehemaligen" gerade erst wiederfand und von ihr einen langen Brief über ihre Flucht eine Woche vor dem Mauerbau 1961 und ihre ersten Jahre in der BRD erhielt, regte mich das sehr stark an, mich auch daran zu setzen und schon jetzt meine Erfahrungen aufzuschreiben. Daher der Themenwechsel.


Eines schönen Morgens im Mai 1960 wachte ich auf und wunderte mich, warum es so still in der Wohnung war. Das schien ungewöhnlich, da meine Eltern um diese Zeit noch zu Hause waren, bevor sie zwischen 7:00 und 7:30 Uhr zur Arbeit gingen.

Ich stand auf und bemerkte, dass anscheinend niemand in der Wohnung war. Dann guckte ich im Schafzimmer der Eltern in den Schrank und sah, dass das Fach mit den Hemden und der Unterwäsche meines Vaters leer war. Ich schaute im Wohnzimmer im Bufett in der Schublade nach, wo die Papiere meines Vaters waren. Nichts, alles weg. Scheinbar hatte ich es im Gefühl, dass irgend etwas nicht in Ordnung war, warum sonst hätte ich in den Schränken nachgeschaut?

Ich erschrak gewaltig, denn mir war sofort klar, dass mein Vater "abgehauen" war. Wo meine Mutter in dem Moment war, weiß ich nicht mehr, aber irgendwann bald tauchte sie auf. Aber ich fragte nicht, wo sie gewesen sei und wo der Vater denn sei. Wir vermieden jegliche "wirkliche" Kommunikation. Hatte sie gewußt, dass er plante, wegzugehen ? Ich habe es nie erfahren, aber auch nie gefragt. Das ganze Fluchtthema inklusive der Eheprobleme meiner Eltern war bis auf wenige Gespräche mit meinem Vater tabu.
Wir fuhren an dem Morgen mit den Rädern ins Georgental zu einer Rotkreuz Übung, an der meine Mutter teilnehmen mußte, da sie als "Schreibmaschinenkraft" beim Roten Kreuz in der Marienstraße arbeitete. Ich muß wohl einige Ferientage gehabt haben, denn ich ging an dem Tag nicht in die Schule.

Irgendwie ging der Tag vorüber und wir machten uns am späten Nachmittag auf den Heimweg. Am Schlossberg begann meine Mutter zu weinen und ich versuchte sie damit zu trösten, dass ja nun der ewige Krach zwischen meinem Vater und ihr vorbei sei. Ich weiß nicht, ob ich auch weinte, ich glaube eher, dass ich das unterdrückte, denn ich war zwar geschockt, aber irgendwie auch erleichtert.

Mein 43 Jahre alter Vater hatte seit mindestens einem Jahr eine Affäre mit seiner 18 oder 19 jährigen Cousine Ilse. Ich glaubte während der ersten Zeit, dass nur ich davon wüßte, denn ich spionierte ihm nach, aber er versteckte diese Beziehung auch gar nicht vor mir. Er schlief mit ihr nebenan im Schlafzimmer meiner Eltern, als meine Mutter bei ihren Eltern in Camburg war und ich bekam vieles mit, was er so trieb. Es war die Hölle für mich, denn einerseits wollte ich ihn nicht "verpfeifen", da ich ihn trotz allem liebt. Andererseits war es natürlich auch eine Qual für meine Mutter, die ihn aber nicht rausschmiß. Und ich haßte ihn auch für seine Lügen und diese Affäre, die ich so gut beobachteten konnte.
Ich erinnere mich an eine Szene, wo ich meine Eltern während einer Auseinandersetzung bat, sich doch bitte scheiden zu lassen. Es sei ja nicht mehr auszuhalten. Leider fand diese Scheidung nicht statt. Damals war ich überzeugt, dass das für alle Beteiligten besser gewesen wäre. Ich glaube das in mancher Hinsicht immer noch.

Das also nur als kurzer Hintergrund zu dem Tag im Mai 1960, der eigentlich noch mehr Ausführlichkeit beansprucht, aber erst einmal genügen soll.

Natürlich gab es auch ökonomische Gruende für die Flucht, denn mein Vater arbeitete zwar für seinen Vater als Technischer Zeichner. Die kleine Privatfirma hatte aber nicht mehr viele Aufträge der Firmen, die Feuerungsanlagen benutzten, die mein Vater zeichnete und die dann gebaut und installiert wurden. Die Aufträge wurden immer häufiger an staatliche Firmen vergeben, nicht an private.
Mein Vater war mehr auf dem Tennisplatz und mit seiner Freundin zusammen als im Büro bei der Arbeit.

Für mich war zu dem Zeitpunkt aber nur der Zusammenhang mit der Affäre sichtbar. Mir schien klar, dass er weggegangen war, weil seine Geliebte mit ihrer Familie, dem Onkel meines Vaters plus Ilses Stiefmutter und Stiefgeschwister schon etwas eher im Frühling 1960 geflohen waren. Nun wollte er hinterher, das war doch ganz offensichtlich.

Wie sollte es nun weitergehen? Ich erinnere mich vage, dass meine Mutter und ich am Anfang Pläne machten, die einen Umzug in eine kleinere Wohnung, möglichst in der Nähe vom Opa im Südviertel, einschlossen. Es war klar, das wir aus der großen Wohnung in der Domstraße ausziehen mußten, wenn wir in Eisenach blieben. Und ich wollte auf alle Fälle bleiben! Warum sollte ich in den Westen? Wir hatten jetzt endlich Ruhe, meine Mutter hatte Arbeit, ich ging in die Schule, ich hatte Freunde und hatte meine Wurzeln in der Stadt und Umgebung. Die Großeltern Förstermann waren hier, ich kannte mich aus. Es gab keinen Grund, wegzugehen. Dachte ich.... die Realität sah jedoch anders aus.

Meine Mutter dagegen mußte mit meinem Vater Kontakt haben, denn wir fuhren eines Tages mit dem Rad nach Wutha, in ein Dorf östlich von Eisenach, um dort einen Brief in den Briefkasten zu stecken. Warum das? Wohl, weil meine Mutter Angst hatte, der Brief könnte abgefangen werden und wir in Verdacht geraten würden, auch wegzuwollen.

Nach ca einem Monat, denke ich, sagte mir meine Mutter, dass wir auch in den Westen gehen würden, vermutlich im Sommer, in den Ferien. Ich war damit überhaupt nicht einverstanden und sah das nicht ein. Außerdem hatte ich fürchterliche Angst vor dem unvermeidlichen Flug von Berlin nach Westdeutschland. Man sah die Flugzeuge hoch oben über Eisenach fliegen und ich hatte Angst, auch große Angst, dass mir schlecht würde. Es war fast eine Art Phobie.

Ich weiß jetzt nicht mehr, ob sie mir meine Zukunft ausmalte, die wahrscheinlich so aussah, dass ich nie das Abitur machen oder studieren künnte, da meine Familie einen republikflüchtigen Vater hatte, der uns Zurückgebliebene politisch auch verdächtig machen würde. Dass wir mit allen möglichen Repressalien rechnen mußten, keine gute Wohnung finden würden usw. usw. Es kann gut sein, dass das besprochen wurde. Es entsprach auch der Realität, wie ich später erfuhr.
Jedenfalls gab ich es irgendwann auf, mich gegen den Plan zu wehren. Ich hatte keine Stimme in dieser Entscheidung, das wurde mir klar.

Meine Mutter begann mit den Vorbereitungen der Flucht. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, wie sie das im Einzelnen anging, aber ich kann es rekonstruieren. Sie muß erst einmal die Großeltern Förstermann eingeweiht haben.
Dann hat sie auch mit der Familie eines Schulfreundes gesprochen, die bereit war, mehrere Möbelstücke zu kaufen oder zu übernehmen, mein Fahrrad, die Puppenstube (die mein Vater gebaut hatte) mit schönen alten Puppen und den geliebten Wellensittich Bobby. Wie all diese Dinge genau zu der Familie H. kamen, weiß ich nicht und vermute nur, dass einiges per Rad hintransporiert wurde, anderes einen Tag nach unserer Flucht vielleicht mit dem Auto abgeholt wurde. Mein alter Freund R. weiß dies auch nicht mehr, so bleibt es ein ungelöstes Rätsel.

Ausserdem weihte meine Mutter eine Nachbarin in den Fluchtplan ein, die in der Wohnung gegenüber von unserer wohnte. Ihr gab sie den Nähkasten, den mein Vater meiner Mutter schon vor dem Krieg geschenkt hatte und der jetzt übrigens sei vielen Jahren hier in P. in den USA in unserem Haus ist und mir gute Dienste leistet.
Offensichtlich vertraute meiner Mutter dieser Nachbarin, dass sie uns nicht verraten würde und dass sie den Nähkasten irgendwie zu meinen Großeltern schaffen würde.
Mehrmals brachten wir dann noch Taschen voller Bücher per Fahrrad am Abend auf getrennten Wegen in die Kapellenstraße, ebenso wohl kleinere Gemälde, die ich auch hier in P. habe. Größere wurden auch gerettet, wie, weiss ich nicht. Aber sie kamen in den nachfolgenden Jahren nach Frankfurt. Ebenso konnten die Fotoalben gerettet werden, wir bekamen sie alle nach und nach von den Großeltern zugeschickt.

Während dieser Vorbereitungsphase passierte eines Tages folgendes: ich stand mit dem etwa 14 Jahr alten Bruder meiner Freundin Mausi (Brigitte Schulze) neben dem Haus in der Domstrasse an der Steinbrüstung oberhalb der Treppen zur Mönchstrasse. Mausi war mit ihren Eltern in den Ferien, ihr Bruder, an dessen Namen ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann, war zu Hause geblieben.

Er fragte mich plötzlich, warum wir denn die Fensterläden geschlossen hätten. Ich war erschrocken, denn mir war natürlich gleich klar, dass er "gefährlich" werden konnte für unsere Fluchtpläne. Sein Vater war in der SED, ein gestandener "Bonze", aber zum Glück nicht da zu dem Zeitpunkt. Also sagte ich so ruhig wie möglich, dass meine Mutter die Vorhänge gewaschen hätte. Ich wartete, ob noch weitere Fragen kommen würden, aber er gab sich wohl zufrieden mit meiner Antwort
Ich bin aber sicher, dass er etwas zu seinen Eltern gesagt hätte, wären sie dagewesen.

Auch in der Schule wurde ich nach dem Bekanntwerden der Flucht meines Vaters von einer Lehrerin oder sogar der Rektorin gefragt, ob wir denn nun auch in den Westen gehen würden. Ich verneinte das, weiß aber nicht mehr, ob diese Antwort mir so leicht von den Lippen kam, weil ich zu dem Zeitpunkt noch nichts von unseren eigenen Fluchtplänen wußte oder so gut wie möglich log, ohne rot zu werden.

Zurück zu den Vorbereitungen: Ich durfte leider keinerlei Spielzeug mitnehmen und es wurde auch keins zu den Großeltern gebracht. Auch meine vielen Kinderzeichnungen sind alle weg, jedoch die meiner Mutter, die sie als Kind in Zeichenhefte gezeichnet hatte, sind hier in P.
Ich dachte in Frankfurt später oft daran und frage mich, warum einige Sachen aus der Kindheit meiner Eltern erhalten sind, während die aus meiner Kindheit alle zurückgeblieben sind und es machte mich traurig. Diese Dinge schienen meiner Mutter vor der Flucht nicht wichtig zu sein oder sie hatte schon genug unter großem Druck zu organisieren. Das wäre verständlich, macht mich aber trotz allem nachdenklich. Irgendwie hätte sie manche kleine Sache vielleicht doch ohne großen Aufwand retten können.

Wie auch immer, der Tag kam irgendwann im Juli, an dem wir den Zug nach Berlin nahmen, einen Nachtzug. Meine Großmutter Förstermann reiste mit uns, da wir mit zwei oder drei großen Koffern für eine Frau mit einem Kind aufgefallen wären. So fuhren wir also zu dritt in der Nacht nach Berlin. Ich kann mich nur vage daran erinnern, weiß aber, dass mir sehr bange war.
Meine Mutter hatte eine Reiseerlaubnis an die Ostsee erstanden, es waren Sommerferien, wir mußten auf dem Weg dahin über Berlin fahren, also sahen wir aus wie "normale" Feienreisende. Sicher war aber auch, dass wir nicht die einzigen Menschen in dem vollen Zug waren, die auf der Flucht waren.
Wir kamen früh morgens in Berlin im Bahnhof Friedrichstraße an, wo man in die S-Bahn nach West-Berlin umsteigen mußte.
Über dem Bahnsteig der S-Bahn gab es eine Art Brücke, auf der mehrere Polizisten oder Soldaten mit, vom Bahnsteig aus gut sichtbar, geschulterten Gewehren patroullierten. Das war bedrohlich, aber wir stiegen unbehelligt in die Bahn ein und wurden auch nicht kontrolliert. In Berlin Charlottenburg stiegen wir aus, wir waren "im Westen", allerdings erst mal "nur" in West Berlin, aber ein großer Schritt war getan.





Der Kurfürstendamm und Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in West Berlin



Das Brandenburger Tor


Die Großmutter war immer noch bei uns, sie begleitete uns zu der Wohnung einer alten Freundin meiner Mutter. Es war noch sehr früh am Morgen, als wir diese Frau herausklingelten. Ich glaube, dass sie sogar im Bademantel war, als sie uns die Tür öffnete.
Mir ist nie ganz klar geworden, ob sie über unsere Ankunft bei ihr überrascht war oder davon wußte, aber ich denke, dass sie auf irgendeine Weise informiert worden war und uns an einem der Tage im Juli erwartete.
Meine Oma verabschiedete sich von uns, denn sie fuhr wieder zurück nach Ost-Berlin und von dort aus nach Eisenach. Ich habe sie und meinen Opa erst 1967 bei meinem ersten Besuch in Eisenach nach der Flucht wiedergesehen.
Ich habe auch nie etwas darüber gehoert, ob sie in Eisenach "ausgehorcht" wurde, denn, was sie getan hatte, war Fluchthilfe, eine strafbare Tat, obwohl Berlin zu dem Zeitpunkt noch keine geschlossene Grenze hatte. Ich gehe davon aus, dass sie nicht behelligt wurde oder dass sie alles abstritt. Sie fuhr ab und zu nach Erfurt zu ihren Verwandten, sie hätte also durchaus eine solche kurze Reise gemacht haben können, da der Zug nach Berlin auch in Erfurt hält.



Kurfürstendamm nicht weit von der Wohnung in der Kantstrasse






Die Freundin meiner Mutter brachte uns in der Wohnung ihres Freundes unter, einem kleinen, modernen Einzimmerappartement, nicht allzu weit vom Kurfürstendamm. Er stellte sie uns freundlicherweise zur Verfügung, so dass wir nicht ins Flüchtlingslager Marienfelde mussten. Ein Luxus, den viele Flüchtlinge nicht hatten.
Natürlich mußten wir uns dort anmelden, um als Flüchtlinge in Westdeutschland anerkannt zu werden und wir mußten ja auch aus Berlin in den Westen geflogen werden.
Aber erst einmal blieben wir ein paar Wochen in Berlin und als erstes schlug ich mir den Bauch voll mit Pfirsichen, die es in der DDR fast nie gab. Ich sah den ersten Afrikaner im wallenden Gewand, guckte mir die Angebote im Kaufhaus zusammen mit meiner Mutter an und war desorientiert. Wir kauften einiges ein, eine häßliche, blaßgelbe Strickjacke aus Dralon, irgendeinem synthetischen Garn und wohl auch Schuhe, aber wir hatten nur wenig Geld.
Mir fehlte natürlich das vertraute Spielzeug, das ich zurückgelassen hatte, die Bücher, überhaupt alles Vertraute.
In der Wohnung, wo wir waren, stand auf dem Schrank ein kleiner schwarzer Berliner Bär, den ich nach Fragen, ob ich ihn haben könnte, auch von dem netten Bekannten, der dort eigentlich wohnte, bekam. Ich habe ihn immer noch.

Dann kam der Tag des Abflugs nach Frankfurt am Main, vor dem mir so sehr graute. Wir saßen in der Wartehalle des Flughafens Berlin Tempelhof, es war schon gegen Abend und ich sah die Fluzeuge steil hochfliegen. Sie mußten wohl schnell eine große Höhe erreichen, da sie nur so über die DDR fliegen durften. Es war ein Propellerflugzeug, in das wir dann über eine Gangway einstiegen. Ich saß nicht am Fenster, das war mir zu unheimlich und ich rührte mich so wenig wie möglich.
Der Flug verging sehr schnell, nicht mehr als eine Dreiviertelstunde dauerte er und schon landeten wir in Frankfurt am Main. Mir war nicht schlecht geworden, ich konnte es kaum glauben. Ein anderes Kind, ein Junge, den ich schon vorher gesehen hatte in der Wartehalle, saß noch auf seinem Sitz und dem Ärmsten war schlecht. Ich war irgendwie stolz, dass ich es, ohne mich zu übergeben, überstanden hatte.

Wir wurden in einen Bus verfrachtet und fuhren durch die regnerische Nacht nach Giessen, nördlich von Frankfurt, in das dortige Flüchtlingslager.
Das Zimmer, in dem wir mit einer vierköpfigen Familie untergebracht wurden, war winzig und natürlich gab es nur Gemeinschaftstoiletten auf dem Gang irgendwo. Das Essen in der Gemeinschaftsküche für alle war schrecklich und es war insgesamt chaotisch und deprimierend. Ich glaube, meine Mutter wurde, wie viele oder gar alle Flüchtlinge, von den Geheimdiensten gefragt, ob sie nicht für den Westen spionieren wollte. Sie war darüber sehr empoert, daran kann ich mich noch gut erinnern.

Auf alle Fälle war ich froh, als wir Giessen verlassen konnten, aber leider ging es nur für weitere zwei oder drei Wochen in ein anderes Flüchtlingslager, nach Hammelburg in Nord-Bayern. Dieses Lager war noch schlimmer als das in Giessen. Es bestand aus alten, heruntergekommenen Holzbaracken, wir schliefen mit zwanzig anderen Frauen und Kindern in einem großen Schlafsaal. Von Schlafen konnte oft keine Rede sein, denn einige Leute hatten Alpträume, wachten schreiend auf, Kinder weinten und Mütter stöhnten. Die Gemeinschaftswaschräume und Toiletten waren schmutzig und ekelhaft, es war wirklich schrecklich.
Wir wurden dorthin verfrachtet, weil mein Vater in Coburg war, allerdings mit seiner Cousine. Meine Mutter wollte natürlich nicht in diese Stadt und wir kamen zu einem Schulfreund meiner Eltern nach Frankfurt.





Der Frankfurter Hauptbahnhof und das Schumann Theater


Ich habe eine Erinnerung an den ersten Tag in Frankfurt, vielleicht waren wir sogar von Hammelburg aus dorthin gefahren oder von Giessen. Ich meine mich zu erinnern, dass wir noch nicht dort wohnten, sondern die Stadt nur besuchten, aber vielleicht ist diese Erinnerung falsch. Vielleicht fühlte ich mich nur "auf Besuch".
Jedenfalls war schon die Ankunft in dem riesigen 24 gleisigen Bahnhof überwältigend. Der Bahnhofsplatz war eine Mischung aus neuer Nachkriegsarchitektur und Gründerzeitbauten:
viel Häßliches, aber auch das interessant aussehende Schuhmann Theater, dass in den frühen Sechziger Jahren leider abgerissen wurde.
Wir gingen vom Bahnhof aus in die "Prachtstraße" Kaiserstraße, die mit ihren hohen Gründerzeitgebäuden großartig und protzig zugleich wirkte. Aber die Straße hatte nicht mehr viel von einer Prachtstraße, eher war es ein Abklatsch einer frühren Pracht. Die Seitenstraßen beherbergten damals schon Bordelle, heruntergekommene Hotels und Bars.
Wir gingen dann in Richtung Hauptwache, dem Stadtzentrum, wo es außer dem wieder aufgebauten Gebäude der Hauptwache nur häßliche Nachkriegsbauten gab. Kein Wunder natürlich, denn Frankfurts Innenstadt war 1943 und 1944 stark zerstört worden.


Die Hauptwache und Umgebung aus der Luft, 60iger Jahre





Der Freund meiner Eltern also war so freundlich, uns in seine kleine Wohnung in Frankfurt Niederrad aufzunehmen. Allerding war er ein recht unsympathischer Mann, aber ich sah nicht allzuviel von ihm bis auf die Wochenenden, wo er mir auch irgendwie zu nah kam, mich aus dem Bett holen und anfassen wollte. Er war ein ekliger Kerl in meinen Augen.

Meine Mutter fand relativ schnell Arbeit im Arbeitsamt als Schreibkraft, wie das damals hieß. Es herrschte Arbeitskräftemangel, es wurden qualifizierte Leute gesucht und das war sicher der Grund, warum meine Mutter schon dort, wo man eigentlich nur Beratung bei der Stellensuche erwartete, Erfolg hatte. Sie wurde dann auch Sachbearbeiterin und war es bis zur Rente.
Wir waren nun ungefähr zwei Monate in Frankfurt. Es mußte eine Schule fuer mich gefunden werden. Mehr dazu im folgenden Kapitel.
Etwa zur gleichen Zeit begann auch die Wohnungssuche, denn wir wollten und konnten ja nicht in Niederrad bleiben. Allerdings zog sich diese Suche etwas hin, denn ich erinnere mich, dass ich wohl doch ein paar Monate lang von Niederrad aus zum Goethe Gymnasium fuhr, eine recht lange Straßenbahnfahrt mit Umsteigen am Hauptbahnhof.
Ich glaube, meine Mutter fand eine Wohnung im November, bin aber nicht mehr sicher. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, wo wir Weihnachten in dem ersten Jahr im Westen verbracht haben. In Niederrad oder in der Weberstrasse 5 im Nordend? Ich weiß es seltsamerweise nicht.
Ich war sicher so überwältigt von all dem Neuen, der großen Stadt im Vergleich zu Eisenach, der neuen Schule, dem Dialekt, den ich oft nicht verstand und lange schrecklich fand, dem Heimweh nach Thüringen, nach dem Vertrauten.
Wir schauten uns diese Wohnung dann irgendwann einmal an und meine Mutter zögerte nicht, sie zu nehmen. Sie mußte sie schon gesehen haben, denke ich. Ich war erst mal etwas geschockt, dass sie so klein war, nur zwei Zimmer, Küche, Bad, Toilette und Balkon im dritten Stockwerk eines älteren Hauses, dessen obere Stockwerke im Krieg zerstört wurden und das wieder aufgebaut worden war. Allerdings war es äußerlich weniger attraktiv als die umliegenden Häuser, die keine Bombenschäden hatten.
Da die Miete bezahlbar war, nahmen wir die Wohnung. Natürlich hatten wir keine Möbel. Also mußten wir nach Möbeln suchen. Auch diese fand meine Mutter, im typischen Stil der Zeit, der späten Fünfziger Jahre und nicht nach meinem Geschmack. Ich war an alte Möbel gewöhnt, aber die waren im Osten.
Ich muß schwierig gewesen sein, denn ich war so unglücklich in Frankfurt und konnte mich für nichts begeistern. Meine Mutter organisierte alles und die Tochter mäkelte. Es war bestimmt nicht einfach für sie.
Als wir dann einzogen und die Wohnung halbwegs eingerichtet war, gewöhnte ich mich an die neue Umgebung, ich hatte mein eigenes Zimmer, meine Mutter schlief auf einer Schlafcouch im Wohnzimmer, die jeden Tag neu zum Schlafen ausgezogen und früh wieder zur Wohnzimmercouch gemacht werden musste. Umständlich, aber auch praktisch.
Und wir waren nur zu zweit. Dass mein Vater ein Jahr später wieder zur Familie zurueckkehren würde, war mir und vielleicht auch meiner Mutter zu dem Zeitpunkt nicht klar.




Der Eschenheimer Turm, wo ich jeden Morgen die Straßenbahn zur Schule nahm, als wir in die Weberstraße gezogen waren.






Juttas Erfahrungen ihrer Flucht in den Westen


Hier zusätzlich der Bericht aus einem Brief einer ehemaligen Mitschülerin über ihre Flucht aus der DDR und die Jahre danach in Westdeutschland und Berlin. Ich hatte im Februar 2008 Kontakt mit ihr aufgenommen und seitdem tauschen wir uns regelmäßig aus.


"Als Du damals 1960 plötzlich nicht mehr zur Schule kamst konnte ich das einfach nicht fassen. Wir beide hatten zwar, wenn ich mich richtig erinnere, nicht soviel Kontakt miteinander, aber ich mochte Dich immer recht gerne. Ich fand damals, dass Du so aussahst, wie ich es gerne getan hätte: blond, glattes Haar und Pony. Ich hingegen war dunkelhaarig, meine Haare waren kraus und nicht zu bändigen, ich hasste das. Ich habe Dich irgendwie sehr vermisst, Du hast für mich eine Lücke hinterlassen und es tat mir sehr leid, als Du weg warst.
Wir sind im August 1961 weg, eine Woche vor dem Mauerbau (13.August). Für mich war das alles schrecklich. Ich wollte nicht weg aus Eisenach zur damaligen Zeit. Leider wurde ich nicht gefragt, ich wurde einfach vor die Tatsache gestellt. Man hatte meinem 6 Jahre älteren Bruder an seiner Arbeitsstelle im Wartburg-Werk wochenlang zugesetzt, er solle sich doch „freiwillig“ zur Armee melden und er ertrug das nicht mehr. Er wollte „abhauen“, doch mein Vater wollte nicht, dass er alleine ging. Es kam zu einem Entschluss, der unser aller Leben total auf den Kopf stellte. Man wartete noch, bis ich aus dem Ferienlager aus Berlin zurückkam und noch am selben Abend hieß es für mich, die ganze Familie wolle noch mal nach Berlin, Ferien machen. Da Berlin schon damals meine Wunschstadt war, freute ich mich riesig. Doch damit war es schlagartig vorbei, als wir nach dem Umsteigen in die S-Bahn im Bah nhof Friedrichstrasse dann auf dem Bahnhof im Westen ausstiegen und man sagte, wir seien jetzt im „Westen“ und blieben auch dort. Als mir klar wurde, ich könnte nun nie wieder „nach Hause“ zurück, habe ich wohl einen ziemlichen Wirbel veranstaltet. Meine Eltern schleiften mich so schnell wie möglich vom Bahnsteig runter, denn der war ja noch Ostterritorium und wir hätten durchaus noch festgenommen werden können. In meiner dummen Unwissenheit hätte ich beinahe die ganze Aktion gefährdet. Es war schon ein ganz schönes Risiko, das meine Eltern damals auf sich genommen haben.
Nun waren wir also im Westen mit nichts als 2 Koffern und einigem Ostgeld. In Berlin hatte mein Vater eine alte Bekannte, die uns alle vier erstmal aufnahm, sodass wir nicht ins Lager Marienfelde mussten. Mein Vater war gelernter Großhandelskaufmann und hätte die Möglichkeit gehabt, ein Lebensmittelgeschäft in Berlin zu übernehmen. Ich hätte es dann schon toll gefunden in Berlin zu leben, ein Kindheitstraum wäre in Erfüllung gegangen. Leider wurde daraus nichts, denn Berlin platzte aus allen Nähten, weil so viele Menschen aus der DDR in den Westen geflohen waren, war das Lager Marienfelde restlos überfüllt und man kam zu dem Schluss, alle Flüchtlinge nach Westdeutschland in verschiedene Auffanglager zu verteilen. So wurden auch wir gezwungen, Berlin zu verlassen. Mein Traum von Berlin platzte und Papas Traum vom eigenen Geschäft auch. Wir kamen in den Genuss, zum ersten Mal im Leben mit einem Flugzeug zu fliegen, aber wir landeten ziemlich unsanft im wahren Leben, als wir innerhalb von 1 Woche in 2 verschiedenen Lagern landeten, die mehr als schrecklich waren. So viele unglückliche Menschen waren dort auf kleinstem Raum zusammengepfercht. Ich frage mich heute, wie meine Eltern es geschafft haben, ihren Optimismus zu bewahren. Inzwischen hatte mein Vater die Möglichkeit, in Düsseldorf bei seinem ehemaligen Lehrchef aus Eisenach eine Stelle als Kaufmann im Gemüsegroßmarkt zu erhalten. Also wurden wir in der Nähe von Düsseldorf in elenden Baracken untergebracht, von wo aus mein Vater und mein Bruder täglich zur Arbeit fuhren. Meine Mutter und ich bastelten inzwischen aus Obstkisten und Stoffen vom roten Kreuz eine irgendwie bewohnbare Bleibe aus unseren 2 Barackenräumen. Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsklos waren unerträglich. Nach 3 Monaten in dieser Hölle bekamen wir eine 2 ½ Zimmer-Wohnung in Korschenbroich bei Mönchengladbach zugewiesen, die noch so neu war, dass das Wasser noch von der Decke tropfte und wir mit Regenschirmen schliefen in den ersten Nächten. Aber wir hatten eine eigene Wohnung mit eigener Küche und eigenem Bad.
Hier konnte ich wieder die Schule besuchen, die mich aber vom ersten Tag an mit Entsetzen erfüllte. In Eisenach hätte ich mit Sicherheit Abitur gemacht und ich hatte fest vor, zu studieren. In Korschenbroich rückte dieser Plan in sehr weite Ferne. Dazu muss man wissen, es hatte uns in eine urkatholische Gegend verschlagen, in der es noch Konfessionsschulen gab. Da es nur sehr wenige Menschen (alles „Zugereiste“) gab, die evangelisch waren, hatte die evangelische Schule nur 2 Klassenräume mit je 4 Schuljahren in einem Raum. Unvorstellbar für mich und genauso unzumutbar. Ein uralter Lehrer versuchte uns was beizubringen, das ich schon vor Jahren gelernt hatte.
Da mein Vater wollte, dass auch ich neben Mutter und Bruder schnellstens meinen Teil zur mehr als knappen Haushaltskasse beitrug, verließ ich die „Volksschule“ nach einem halben Jahr mit dem Abschluss der 8. Klasse und begann eine Lehre in der Korschenbroicher Apotheke als Apothekenhelferin. Es gab im Ort keine andere Lehrstelle, also fügte ich mich in mein Schicksal. Aufzumucken wagte ich nicht, denn mein Selbstbewusstsein war seit der Flucht und den schrecklichen Situationen in den verschiedenen Lagern im untersten Level angekommen. Mein Vater war in dieser Zeit auch sehr autoritär, vermutlich setzten auch ihm, wie eigentlich uns allen, unsere Lebensumstände enorm zu.
Also begann ich diese ungeliebte Lehre. Allerdings entpuppte sich meine neue Tätigkeit als hoch interessant, wenn ich mal was anderes als Staubwischen tun durfte. Mein Beruf war zu damaliger Zeit sehr vielseitig. Ich lernte viele für mich völlig neue Dinge, z.B. lateinische Bezeichnungen für alle handelsüblichen Drogen, ich lernte sehr viel über Wirkungsweisen von Pflanzen (die ich schon immer geliebt habe) , musste ein Herbarium anlegen, viel zeichnen und lernte die künstlerische Beschriftung von Apothekengefäßen. Ich lernte Pillen zu drehen, Zäpfchen zu gießen, Salben zusammenzurühren und ich lernte viel über Rechnungserstellung und Warenverkehr, also kaufmännische Zusammenhänge. Meine Zeit war plötzlich voller interessanter Dinge
So vergaß ich ein bisschen, wie schrecklich uns unsere katholischen Nachbarn und Mitbürger oft zusetzten und uns mit ihrem Neid und Hass verfolgten.
Ich schloss meine Lehre erfolgreich ab und wollte unbedingt weg aus dieser Apotheke und aus dem kleinen Ort in dem wir nun lebten.
Zum ersten Mal handelte ich gegen den Willen meines Vaters, der unbedingt wollte, dass ich noch ein Jahr dort arbeiten sollte.
Ich suchte mir eine Arbeitstelle in Mönchengladbach in einer schönen, neuen Apotheke mit einem jungen, toleranten Chef und zum ersten Mal seit unserer Flucht spürte ich Freiheit für mich. Ich konnte schalten, wie ich wollte bei meiner Arbeit, mein Chef hatte wohl schnell erkannt, dass ich besser arbeitete, wenn man mir nicht reinredete. Inzwischen war ich 18 Jahre alt und machte den Führerschein.
Nach einigen harmlosen Liebeleien mit ausschließlich nichtkatholischen Jungs begann ich eine Freundschaft mit einem 4 Jahre älteren, jungen Mann, der, aus Ostberlin stammend, ebenfalls in unserem Wohnblock mit seiner Familie wohnte nach den üblichen Lagerdurchgängen. Michael hat seine Kaufmannslehre, die er von Ostberlin aus im Westteil der Stadt begonnen hatte, in Düsseldorf in der Fotobranche beendet und fuhr, genau wie mein Vater und mein Bruder, täglich nach Düsseldorf. Er unterschied sich in allen Bereichen sehr wohltuend von den Jungs, die ich bis dahin kannte und ich verliebte mich sehr heftig. Nach dem er die Bundeswehr hinter sich hatte, wollte er auch so schnell wie möglich weg aus diesem Kaff Korschenbroich und beschloss, wieder nach Berlin zurück zu gehen.
Er fragte mich, ob ich Lust hätte, mitzugehen. Ich hatte!!!
Mein Vater bestand darauf, dass ich nur gehen dürfte, wenn wir vorher heiraten. Also heirateten wir. Ich war 20, Michael war 24. Unsere Hochzeitsreise machten wir nach Ägypten und Libanon. Ich glaube, meine Eltern hielten mich für verrückt, aber es war traumhaft. Meine erste Auslandsreise und gleich so spektakulär. Zu damaliger Zeit war das schon noch eine Sensation.
Für mich erfüllte sich der Traum von Berlin. Was für ein herrliches, neues Lebensgefühl nach dem Dorfmuff von Korschenbroich!
Wir wohnten in einer Einraumwohnung in Neukölln mit Innentoilette, ohne Dusche, aber wir waren glücklich. Ich arbeitete wieder als Apohekenhelferin mit viel Freude am Beruf. Nach einem Jahr schon kauften wir uns eine Eigentumswohnung im Süden von Berlin. In Lichterfelde West. Michael ist ein Kaufmann durch und durch, er arbeitete bei seinem ehemaligen Lehrchef als Verkäufer in der Fotobranche auf Provisionsbasis und durch sein Verkaufstalent und seinen enormen Fleiß konnten wir uns, zwar mit hoher Verschuldung, aber doch diese Wohnung kaufen.
Ich wollte mich gerne weiterbilden und meldete mich an um eine Ausbildung zur PTA (pharmazeutische Assistentin )zu machen, das klappte dann leider nicht, weil ich schwanger wurde.
Unsere Tochter Sabine wurde am 12.5. 71 geboren. Zuerst war ich sehr unglücklich mit dem Kind alleine zu Hause, aber da ich nicht gewusst hätte, was ich mit dem Kind hätte tun sollen, während ich gearbeitet hätte, blieb ich eben zu Hause. Als Sabine dann soweit war, dass sie in den Kindergarten gehen konnte, übernahm ich Vertetungsarbeiten in Apotheken und fand das ganz interessant, weil es immer was Neues zu lernen gab.
Michael bastelte inzwischen an seinem Traum vom eigenen Haus. Wir erwarben ein wunderbares Grundstück nicht weit von unserer Wohnung und mit unendlich viel Fleiß und Ehrgeiz baute er uns ein für meine Begriffe viel zu großes Haus. 1975 zogen wir ein und für mich war an
Arbeiten nicht mehr zu denken, Haus, Garten und Kind waren mehr als genug. 2 Jahre später machte sich Michael selbstständig. Zuerst mit einer Vertretung für einen großen Kalenderverlag und nach und nach kamen immer mehr Vertretungen hinzu. Ich war jetzt die Dame im Büro, das war sehr praktisch, weil ich trotzdem immer zu Hause und für das Kind da sein konnte.
1978 kam unser Sohn Olav zur Welt, auch nicht geplant, aber herzlich willkommen. Nun konnte ich nicht mehr alles alleine schaffen und wir stellten eine Bürokraft ein und ich fungierte als Feuerwehr, die immer öfter zum Einsatz kommen musste, je größer die Kinder und die Firma wurden. Als Ausgleich und für mich ganz persönlich fing ich 1979 mit der Malerei an, was bis heute neben Lesen mein liebstes Hobby geblieben ist."


Copyright: Gisela Förstermann 2008