Thursday, February 7, 2008

Frankfurt am Main: Das Goethe Gymnasium




Das 1959 gebaute neue Goethe Gymnasium. Das alte Gebäude war im Krieg zerstört worden

Es mußte bis zum Herbst 1960 eine Schule, d.h. ein Gymnasium, für mich gefunden werden Meine Mutter machte sich kundig und fand das Goethe Gymnasium im Westend der Stadt, wo man auch Russisch lernen konnte, das ich ja schon für mindestens ein Jahr in Eisenach gelernt hatte. Ich wollte das auch weiter machen. Und ich wollte auf keinen Fall auf ein Mädchengymnasium, denn ich war an gemischte Klassen gewöhnt. Wir hatten ein Gespräch mit dem Schulleiter und kamen überein, dass ich in die Quinta kommen würde, obwohl ich dann ein Jahr Englisch nachholen müßte, das schon in der Sexta unterrichtet wurde, die ich ja versäumt hatte. Ich war sowieso schon älter, da ich wegen meines Geburtsdatums im Oktober erst mit fast sieben Jahren 1954 in die Eisenacher Schule gekommen war. Ich wollte nicht mit noch Jüngeren in der Klasse sitzen. Allerdings war die sechste Klasse der Eisenacher Schule viel weniger anspruchsvoll gewesen als die im Gymnasium in der Großstadt Frankfurt. Die Quarta, also die siebte Klasse, wäre auf jeden Fall zu schwer für mich gewesen. Nun kam ich also in die Quinta (d.h. die 6. Klasse) des Gymnasiums, denn sonst hätte ich zwei Jahre Englisch nachholen müssen.






Der Schulhof der Schule



Mir gefiel übrigens die moderne Architektur des Gymnasiums damals sehr. Die alte Goethe Schule in Eisenach erschien dagegen eher wie eine Kaserne oder ein Gefängnis auszusehen. Aber innen im Gymnasium herrschte nach wie vor der alte Drill, trotz moderner Architekur.


Ich fuhr in den ersten Monaten nach Schulgebinn von Niederrad aus mit der Straßenbahn zur Schule, eine vielleicht halbstündige Fahrt, je nach Anschluß an eine Bahn, die vom Hauptbahnhof bis zur Schule in der Friedrich-Ebert-Anlage fuhr. Als wir dann im Nordend wohnten, mußte ich durch den Anlagenring zum Eschersheimer Turm laufen und von dort mit einer Bahn zum Bahnhof oder zur Hauptwache fahren und von da mit einer anderen Bahn zur Schule. Beide Strecken waren eine "Reise", verglichen mit den fünf Minuten zu Fuß zur Goetheschule in Eisenach. Es gab auch oft genug Männer, die mich "betatschten" oder Exhibitionisten in den Bahnen. Ich war nicht beherzt genug, mich gleich lautstark zu beschweren, das machte man damals nicht und so konnten diese ekligen Typen weiterhin ihr Unwesen treiben.



Der Frankfurter Hauptbahnhof

Für einige Monate ging ich nach der Schule in den Kinderhort, der gegenüber vom Gymnasium im Gebäude der evangelischen Matheus Gemeinde war. Allerdings war die Betreuung langweilig und dann auch höchst unangenehm für mich. Der Sohn der Betreuerin war sehr aggressiv und schlug mich mit einem Schlüsselbund an einem Strick an die Beine. Er war, glaube ich, etwas jünger als ich und völlig außer Kontrolle. Meine Mutter arrangierte dann, dass ich zu ihr zum Arbeitsamt kommen konnte nach der Schule. Sie hatte ja relativ schnell eine Stelle als "Schreibkraft" dort bekommen. So fuhr ich nach der mißlungenen Hortzeit jeden Tag nach dem Unterricht mit der Straßenbahn zum Arbeitsamt, um dort mit meiner Mutter in der Kantine zu Mittag zu essen. Dann lief ich langsam oder schneller, je nach Laune, nachhause, hörte Radio, oft den amerikanischen Soldatensender AFN (!) und machte Hausaufgaben, sofern ich Lust dazu hatte. Meine Klassenlehrerin Frau Schmidt in der Quinta fand einen Tutor, er hieß Hartmut S. und war ein Schüler in einer höheren Klasse, der mich ins Englische einführte. Es kostete, glaube ich, 1,50 DM pro Stunde, die Schule trug die Kosten. Ich hatte erst einmal größere Schwierigkeiten mit der englischen Aussprache der Konsonanten th, r und l, etc. und die Ungeduld des nicht gerade freundlichen älteren Schülers halfen mir ganz und gar nicht. Er trommelte immer mit den Fingerspitzen an die Fensterscheibe, eine Angewohnheit, die mich sehr nervös machte. Ich weiß nicht mehr, wie lange dieser einstündige Unterricht nach der Schule dauerte, ein halbes Jahr oder ein ganzes Jahr. Aber ich stieg nach und nach in den eigentlichen Englisch Unterricht bei Frau Schmidt ein und es wurde leichter für mich. Sie war eine nette, ältere Frau, die dann leider in Rente ging. Den ehemaligen Tutor sah ich viel später in den Siebziger und Achtziger Jahren öfters in der Leipziger Straße im Stadtteil Bockenheim , als ich studierte und dann auch dort wohnte. Er hatte immer noch den gleichen, kalten Blick und war wohl Anglist an der Universität. Natürlich gab es kein Wort des Erkennens, wie das so bei den Deutschen üblich ist, die sich nicht "grün" sind. Wir bekamen in der Quarta einen neuen Klassenlehrer, Herrn Dr. Bernstein, der auch unser Englischlehrer war und mit dem ich ganz gut zurechtkam. Auch meine Noten waren nicht schlecht. Er hatte wohl den Krieg in England verbracht und war dann wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Er war neben Herrn Hebel, dem Deutschlehrer, einer der nettesten Lehrer. In dem Schuljahr kam auch Latein in den Stundenplan und machte mir das Leben an der Schule wieder etwas schwerer. Der Lehrer war streng, aber anständig und fair, bloß die lateinische Grammatik war es meiner Meinung nach nicht. Insgesamt war der ganze Unterricht in allen Fächern natürlich viel schwieriger und anspruchsvoller als in der Goethe Schule in Eisenach. In meiner Klasse gab es einige Schüler, die mir wie kleine Professoren vorkamen. Einer besonders, Stefan S., Sohn eines Arztes oder eines Rechtsanwaltes, konnte ganze Vorträge halten wie ein Erwachsener. Zumindest war das mein Eindruck. Es imponierte mir, schüchterte mich aber auch sehr ein. In Eisenach war ich eine gute Schülerin gewesen, ging gerne in die Schule und war beliebt. Hier, im "goldenen Westen" sah das nun alles ganz anders aus. Zu den Lehrern ist noch zu sagen, dass relativ viele Kriegsveteranen waren und sich das auf ihre Pädagogik auswirkte. Einige waren sehr jähzornig und in pädagogischer Hinsicht natürlich völlig unbedarft.

Der Mathematiklehrer in der Quinta und vielleicht auch in der Quarta, ein Herr Dr. Reiz, war ein sehr korrekt gescheitelter, grauhaariger und sehr strenger Lehrer, der des öfteren den Zeigestock benutzte, um damit unaufmerksame Schüler leicht oder auch weniger leicht am Kopf anzustoßen. Von ihm ging das Gerücht um, dass er jeden Tag von Oberursel, schon fast im Taunus, zur Schule lief. Er trug oft einen grauen Kleppermantel, passend zu seiner ganzen grauen Erscheinung. Mit solchen gestrengen Lehrern hatte ich bisher nichts zu tun gehabt, dementsprechend war ich ängstlich, auch weil das vieles über meinen Kopf hinwegging und ich vollkommen überfordert war.


In Eisenach gab es viel mehr Lehrerinnen, was aber sicher damit zu tun hatte, dass es eine Grundschule war. Außerdem wurden die Lehrer in der DDR nach ihrem politischen Standpunkt und ihrer Vergangenheit in der Nazizeit ausgesucht und dann kurz ausgebildet, um den Bedarf für neue Lehrer zu decken. Am Gymnasium in Frankfurt hatte ich nach Frau Schmidt in der Quinta nicht eine einzige Frau als Lehrerin, höchstens im Sport. In der Untertertia kam Französisch hinzu, nun waren meine Kapazitäten für Fremdsprachen erschöpft. Ich "baute ab". Ich mußte aber nur ein Jahr Französisch nehmen, es war kein Pflichtfach mehr. Ich hatte genug zu tun mit den anderen Fächern. Hinzu kam, dass die Klasse selbst von Anfang an sehr stark von "Klassenunterschieden" geprägt war. Die Hälfte der Kinder in der Klasse kamen aus wohlhabenden Familien, wohnten im Westend, einem sehr bürgerlichen, immer noch elegantem Viertel mit Häusern der Jahrhundertwende in schönen Straßen mit großen, alten Bäumen. In der anderen Klassenhälfte befanden sich Mittelschichtkinder und Arbeiterkinder, die meisten von ihnen wohnten nicht im Westend. Ich gehörte auch zu diesen Kindern, die zu dieser Schule entweder wegen besonderer Begabung gingen, oder weil sie aus der DDR kamen und an der Schule Russisch weitermachen konnten, falls sie das wollten. Am Tag der Einschulung wurden noch zwei oder drei andere Kinder in dieselbe Klasse eingeführt und vorgestellt. Unter ihnen waren Zwillinge, Susanne und Doris E., die von einer anderen Schule in Frankfurt zum Goethe Gymnasium gekommen waren.



Meine "Oststrickjacke". Das Foto wurde noch vor der Flucht aus Eisenach gemacht. Damals wußte ich wohl schon, dass wir in den Westen gehen würden




Ich weiß nicht mehr genau, ob folgende Begebenheit gleich nach dieser Vorstellung in der Klasse passierte, oder einige Tage später. Jedenfalls machte mich Susanne darauf aufmerksam, dass ich besser aussehen würde, wenn ich meine Ärmel meiner bescheidenen DDR Strickjacke, die ich zu Rock und Bluse trug, doch hochziehen würde bis zum Ellenbogen. Das sei viel schicker. Ich war baff und war mir sofort bewusst, dass Aussehen und Kleidung im Westen eine wesentlich größere Rolle spielten als im kleinen Eisenach in der DDR. Ich fühlte mich verunsichert und auch verletzt, so, als würde ich als Person, besonders als jemand aus der DDR, nicht anerkannt und vielleicht gar abgelehnt. Es war eine schmerzliche Erfahrung, die ich bis jetzt nicht vergessen habe. Susanne mag es gut gemeint haben und wollte mir mit ihrem Modehinweis sicher helfen, so aber hatte ich es nicht aufgefasst. Wir waren trotz allem eine Zeit lang befreundet, sie war eigentlich nett, lustig und hübsch dazu, im Unterricht verträumt und irgendwie abwesend, im Gegensatz zu ihrer Schwester. Später wurde unsere Klasse geteilt und wir verloren ein bißchen den Kontakt zueinander. Viele Jahre später trafen wir uns immer mal auf der Straße und sie war immer sehr elegant, im Gegensatz zu mir; so empfand ich es jedenfalls. Sie war Fotografin geworden. Und sie nähte ihre Kleidung selbst, was ich fast nicht glauben konnte. Noch einmal wurde ich von ihr auf mein mangelndes Modebewusstsein hingewiesen, als 1988 meine Mutter gestorben war und mein Mann und ich von Portland nach Frankfurt flogen. Susanne hatte mich per Brief gefragt, ob ich für ein paar Fotos zur Verfügung stehen würde, die sie für eine Broschüre brauchte. Sie würde mich auch dafür bezahlen und natürlich sagte ich zu. Als sie mich dann traf, gab sie mir zu verstehen, dass meine Jacke und mein ganzes Aussehen ihr für das Foto nicht genügten. Ich war offensichtlich nicht schick genug für diese Gelegenheit. Da ich dabei war, die Asche meiner Mutter zu begraben, schien mir ihre Kritik besonders verletzend. Mein Mann hat dann meine Rolle für ihre Fotos übernommen. Er war offensichtlich schicker als ich. (Wir hatten für einige Jahre E-mail Kontakt, vielleicht seit 1998, und ab und zu führten wir Telefongespräche, wir waren uns also nicht so fremd geworden. Sie war die einzige "Ehemalige" vom Goethe Gymnasium, zu der ich noch Kontakt hatte. Ich habe allerdings seit einiger Zeit nichts mehr von ihr gehört, aber wer weiß, ob das etwas mit dem oben im Blog Veröffentlichten zu tun hat. )


Wie gesagt, spielten schon damals Kleidung und Aussehen an dieser Schule eine Rolle und ich konnte nie mithalten und hatte auch gar kein Interesse daran. In den ersten ca. zwei Jahren ich ich mit einer polnischen Klassenkameradin befreundet. Therese P., die mit ihrer Familie von Polen nach Israel ausgewandert war und dann nach Deutschland kam, wohnte auch im Add VideoNordend und ich verbrachte häufig Nachmittage mit ihr. Sie gab mir viele israelische Briefmarken und wir verstanden uns recht gut. Sie war sehr klug und hatte im Gegensatz zu mir keinerlei Schwierigkeiten in der Schule, im Gegenteil, sie hatte in allen Fächern gute Noten und wechselte nach und nach zur anderen Klassenhälfte rüber. Sie war im Westen "angekommen", während ich mit Heimweh kämpfte und die Schule eigentlich hauptsächlich haßte. Ich muß gestehen, dass ich meine negativen Gefühle an einer Mitschülerin ausließ, die ein bißchen eigenartig war. Sie war schüchtern, unsicher, hatte ein fliehendes Kinn und leckte andauernd über ihre Lippen, wenn sie nervös war. Sie hieß wie ich, Gisela, wurde aber von allen Lieschen gerufen, ihr Nachname war Müller. Und ein "Lieschen Müller" war mehr oder weniger eine Beleidigung, nämlich für ein unbedarftes, bescheidenes, vielleicht sogar dummes Mädchen. Sie hatte sich ganz am Anfang um mich gekümmert, als ich ganz neu in der Klasse war. Vermutlich tat sie das auch, weil sie isoliert war und oft gehänselt wurde. Sie suchte eine Verbündete, fand sie aber dann doch nicht in mir , weil ich selber eine Außenseiterin war, das aber nicht sein wollte. So ahmte ich sie nach, machte mich lustig über sie und und habe sie "gemobbt", wie das heute heißt. Gleichzeitig wollte ich aber auch von ihr abschreiben, denn sie war in Mathematik und vielleicht auch in anderen Fächern besser als ich. Ich saß eine Zeitlang neben ihr. Sie ließ das nicht zu und das vollkommen zu Recht, ich war ja richtig fies zu ihr. Als wir einmal im Schullandheim waren, ging mein "mobbing" anscheinend selbst einigen anderen Mitschülerinnen zu weit. Entweder sagten sie etwas nur zu mir oder auch zum Lehrer. Möglicherweise drohten sie, dass sie es dem Lehrer sagen würden, wenn ich nicht damit aufhören würde. Das war eine seltene Unterstützung für einen "underdog" und ich habe auch daraus gelernt und sah ein, dass ich damit aufhören müßte.


Meine Schwierigkeiten im Unterricht fingen schon früh an, im Musikunterricht. Einige Schüler spielten Flöte, alle hatten Noten gelernt und konnten sie auch lesen. Ich hatte das bisher nicht gelernt, war aber im Schulchor in der Goetheschuele in Eisenach gewesen und sang gerne. Hier im Gymnasium schien das wenig zu gelten, wichtiger war anscheinend die Theorie, die man beherrschen mußte. Es war wie Mathematik, meine größte Schwachstelle. Also mußte ich Nachhilfe in Musik bekommen. Es war lächerlich und aller Spaß am Singen verging mir. Es war nur Quälerei für mich. So ging es mit den Jahren immer weiter bergab in der Schule und mit den Noten. Ich war nur in Deutsch, Kunst, Biologie, Erdkunde, Englisch, Religion und vielleicht noch Sozialkunde gut. Wir hatten in der Obertertia einen neuen Klassenlehrer, Herrn Lortz, bekommen, einen Bayer aus Franken. Er war auch der Mathematiklehrer, der mich, so oft er konnte, mit meinem Nachnamen mit rollendem R aufrief. Es war wie beim Militär. Ich war total eingeschüchtert und unmöglich an der Tafel und bekam ständig Fünfen in Mathematik. Ich empfand ihn als richtigen Leuteschinder, so dass mein Vater sogar einmal mit ihm sprach und ihn wohl bat, mich etwas freundlicher zu behandeln, was aber zu nichts führte. In Mathematik, Latein, Chemie und Physik waren meine Noten katastrophal, zumindest vor meinem Abgang von der Schule mit der mittleren Reife. Ich sollte nur in die Obersekunda versetzt werden, wenn ich in den Kunstzweig gehen würde für die letzten drei Klassen vor dem Abitur. Diesem Zweig hing der Geruch der Dummheit an, vor allem deshalb, weil dort alle diejenigen landeten, die mit Mathematik, Physik, Chemie und Latein nicht zurechtkamen. Dies waren die "wichtigen, schwierigen" Fächer, Kunst war etwas für Dumme und "Sitzenbleiber". Man würde sozusagen ein Abitur zweiter Klasse, das "Abitur für Dumme" machen. So empfand ich es jedenfalls damals. Dieses Stigma wollte ich nicht auch noch ertragen müssen und lieber eine Lehre machen und, wie ich mich schon entschieden hatte, Buchhändlerin werden, als weiterhin in dieser Schule zu leiden und als schlechte Schülerin zu gelten. Das einzig Positive war, dass unser Deutschlehrer für mehrere Jahre, Herr Hebel, sehr gut war und mich an die Literatur heranführte, meine Aufsätze schätzte und mir öfter gute Noten gab und mich damit ermutigte. Er war dagegen, dass sich die Schule verließ. Er meinte, dass ich Bücher ja weiterhin lesen könnte, sie nicht unbedingt verkaufen müßte, um sie zu mögen. Damit hatte er schon recht, aber ich konnte und wollte an dieser Schule nicht mehr weitermachen. Er konnte weder mich, noch meine Eltern davon überzeugen, bis zum Abitur durchzuhalten. Drei Jahre waren eine lange Zeit, ich hatte die Nase voll.


Der Taunus, das Schullandheim in der Mitte

Wenn man das alles liest, so muß man denken, dass es in meinen fast fünf Jahren am Goethe Gymnasium nur Unangenehmes gab und mir nichts Spaß machte. So stimmt das natürlich nicht, wenn auch in meiner Erinnerung das Negative zu überwiegen scheint. In den ersten zwei oder drei Jahren wurde jährlich eine Fahrt mit dem Bus zum Schullandheim bei Oberreifenberg im Taunus gemacht. Der Aufenthalt dort dauerte circa eine Woche. Ich weiß noch, dass ich eigentlich überhaupt nicht mitfahren wollte, aber dann überzeugte mich jemand, entweder meine Eltern oder ich mich selbst, es doch zu tun. Und so schrecklich, wie ich es mir vorstellte, war es nicht.
Schullandheim des Goethe Gymnasiums im Taunus bei Oberreifenberg


Natürlich gefiel mir gar nicht, dass wir zu acht in einem Zimmer schliefen. Als Einzelkind war ich solchen nächtlichen Trubel nicht gewöhnt und schlief sehr schlecht. Es gab aber eine Tischtennisplatte in einem Raum und ich spielte dort öfters mit einem der Jungen, weil die Mädchen nicht so recht spielen konnten. Wir machten Wanderungen und Ausflüge nach Oberreifenberg oder zum Feldberg. Das war zwar nicht der Thüringer Wald, aber immerhin waren wir in der Natur und die Luft war wesentlich besser als in Frankfurt. Der Taunus wurde dann auch ein Ausflugsziel für meine Familie, das war immerhin ein erfreuliches Ergebnis.


Im Landheim im März 1962, mit Gabi H. und Ingrid K.


In einer Zelt Jugendherberge in Traben-Trarbach an der Mosel


In den weiteren Jahren machten wir Klassenfahrten nach Trier, Fulda und nähere Umgebung und in die fränkische Schweiz. Während der Fahrt nach Fulda fuhren wir auch nach Philipstal in der Nähe der DDR Grenze, um die deutsche Teilung aus nächster Nähe zu betrachten. Für mich war das ein sehr trauriger Ausflug, denn auf der anderen Seite der Grenze war Thüringen und Eisenach also nicht sehr weit entfernt. Mein Heimweh war heftig. Erstaunlicherweise wurde mir nie die Gelegenheit gegeben, über meine Erfahrungen als DDR- Flüchtling zu sprechen. Vielleicht signalisierte ich auch, dass das für mich zu schwer und zu emotional wäre. Jedenfalls gab es keine Diskussionen über persönliche Erfahrungen. Zu dem Zeitpunkt war ich wohl auch die einzige Schülerin aus der DDR in der Klasse. Zumindest nahm mein Lehrer Dr. Bernstein Rücksicht auf meinen Wunsch, einen Tag allein zu sein, während der Rest der Klasse einen anderen Ausflug machte.



Wir waren damals in der hübschen kleinen Fachwerkstadt Schlitz in Nordhessen und mir gefiel es dort sehr gut. Wir waren in einem Gebäude aus der Renaissancezeit untergebracht, das als Jugendherberge eingerichtet war. Es gab wunderschöne Türen mit Einlegearbeiten aus Elfenbein und Ebenholz, die ich sehr bewunderte. Das Städtchen muß mich wohl etwas an Eisenach erinnert haben, ich habe es bis heute noch vor mir als eine der positiven Schulerinnerungen. Mein Mann und ich haben in den späten achtziger Jahren Schlitz noch einmal besucht und ich hatte den Eindruck, dass es sich nicht verändert hatte .

Die Jugendherberge in Schlitz


Eine der Türen in der Jugendherberge





Ich fand auch in der Klasse einige Mädchen, mit denen ich mich anfreundete. Wir luden uns gegenseitig zum Geburtstag ein und verbrachten Nachmittage miteinander. Unter ihnen war auch Susanne E., die ich schon erwähnte. Sie wohnte zuerst in Bonames, einem nördlichen Vorort von Frankfurt. Trotz der Entfernung besuchte ich sie öfters. Ihre Familienverhältnisse waren denen in meiner Familie auch ähnlich. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, bzw. die Eltern hatten sich getrennt und die Zwillinge hatten einen Stiefvater. Susanne war wohl die einzige, der ich damals von meinem Vater und seinen Affären und der Flucht erzählt habe.


Zu meinem Geburtstag 1962 oder 63 kamen Ingrid K., Gabi H., Tante Ursel und Therese P.




Mit einem anderen Mädchen, Gabi H., die im Ostend wohnte, verband mich das Interesse an Filmen. Wir sahen einige der großen Hollywoodschinken, wie "Vom Winde verweht", "Westside Story" und "Lawrence of Arabia" und andere zusammen. Alle Mädchen in der Klasse waren von "Vom Winde verweht" begeistert, ich von Clark Gable, andere von Vivien Leigh, die Scarlett O'Hara spielte. Dann kamen Elvis Presley, die Beatles und andere Rockgruppen. Ich konnte mich dafür damals noch nicht begeistern, mir schien diese Musik primitiv und nur laut zu sein. Es dauerte Jahre, bis ich die Beatles schätzen lernte. Ich mochte die "Amimusik", die ich im AFN hörte und hielt außerdem zu Bach und Mozart, woran man sicher den Einfluss meiner Eltern erkennen konnte. Aber Bach war ja auch Eisenacher und ein Genie und Mozart war Salzburger und ebenso ein Genie. Eisenach und Salzburg waren meine beiden "Heimatorte", wörtlich und emotional gesehen.










Ingrid K., Gabi H. und Claudia I. bei uns, wahrscheinlich zu meinem Geburtstag, ca. 1963 oder 1964. Mein Vater schenkte Eierlikör ein.



Während die meisten anderen Kinder in der Klasse in den Sommerferien entweder in die Alpen, nach Italien oder Spanien fuhren, fuhr meine Familie für lange Zeit immer nach Hallein, 15 km südlich von Salzburg in Österreich, wo es mir außerordentlich gut gefiel. Aber das ist ein anderes Kapitel. An dieser Stelle möchte ich auch erwähnen, dass im ersten oder zweiten Jahr in Frankfurt, vermutlich 1961, mein Vater wieder "in den Schoß der Familie" zurückkehrte, an den genauen Zeitpunkt kann ich mich nicht erinnern. Jedenfalls nahm ihn meine Mutter sozusagen wieder auf, möglicherweise hatte sie ihn auch darum gebeten, sich auch um mich zu kümmern oder wieder zurückzukommen, weil ich immer renitenter und schwieriger wurde. Dagegen spricht allerdings, das seine wesentlich jüngerer Geliebte und gleichzeitige Cousine einen Freund hatte, der wohl eines Tages in ihrer gemeinsamen Wohnung aufgetaucht war und mein Vater diese Situation vermutlich nicht ertrug. Ich war überhaupt nicht darüber erfreut, sträubte mich sogar sehr dagegen, aber nach und nach gewann er mich wieder zurück und ich akzeptierte es.

Die Ferien in Hallein bei Salzburg waren ein Teil dieses ''Familienpakets", ebenso der Sport, dass Tennisspielen und das Skilaufen im Taunus oder Wanderungen.

Meinen Erinnerung und Erfahrungen nach verbesserte die Rückkehr meines Vaters zwar nicht die Ehe meiner Eltern, gab mir aber möglicherweise eine gewisse Stabilität.

Was war sonst noch positiv an der Zeit im Goethe Gymnasium? Der Kunstunterricht zum Teil, Werkunterricht, auf alle Fälle der Deutschunterricht bei Herrn Hebel, ich fing an Thomas Mann zu lesen, ich mochte auch Biologie und Erdkunde. Und ich ging oft und sehr gerne nach der Schule ins Kino, um der Realität der Schule und des Elternhauses zu entfliehen.


Copyright: Gisela Förstermann 2010

1 Comments:

At October 11, 2015 at 2:31 AM , Blogger Unknown said...

Hallo Gisela,
Nachdem mir Arnim K. vor geraumer Zeit von deinem Beitrag im Rahmen der Alumni-Seite des 'GG' berichtete, suchte ich lange vergeblich bis ich nun endlich auf darauf stieß.
Es ist einerseits vergnüglich von den vielen ebenfalls durchlebten Erinnerungen zu lesen und dabei auch auf Namen zu stoßen, die schon fast vergessen waren, andererseits aber auch betrüblich, wie es dir in den Jahren ergangen ist und wie wenig ich z.B. davon mitbekommen hatte. Und dass, obwohl ich mir noch heute einbilde, dir nicht so ganz fremd gewesen zu sein.
Irgendwann hatten wir uns auf dem Römerberg einmal getroffen: du in einer Buchhandlung, ich auf dem Rückweg von einer Vereinsinitiative, die Frankfurt liebenswerter präsentieren möchte und die es immerhin noch heute gibt.
Solltest du das lesen, so würde ich mich sehr über eine Antwort freuen.
Herzlichen Dank für diesen Beitrag und dir alles Gute
Gernold F.

 

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