Thursday, March 31, 2011

Gedanken, Eindrücke, Gefühle zu Frankfurt am Main (noch im Bau)




Die Kaiserstraße mit Blick in östliche Richtung



Die Hochhäuser gab es natürlich in den sechziger Jahren noch nicht


In den anderen Kapiteln habe ich ja schon einiges über Frankfurt geschrieben. Nun las ich aber kürzlich wieder etwas über die Stadt und machte mir Gedanken darüber, warum ich Frankfurt in einer bestimmten Weise erlebte und wie sich diese änderte in den 25 Jahren, die ich dort verbrachte. Ich möchte mehr oder weniger chronologisch vorgehen, indem ich berichte, wie ich die Stadt zu Beginn und später sah und was ich an ihr mochte und was mich abschreckte. Mein erster Eindruck war geprägt von der Größe und Farbe der Häuser in der Bahnhofsgegend. Sie schienen damals überwältigend groß, grau, dabei aber protzig und klotzig, eben wie Gebäude der Gründerzeit und der Jahrhundertwende. Aber es gab auch genug moderne, unverzierte Nachkriegsbauten, die ich in ihrer ganzen Häßlichkeit überall in der Stadt fand.



Das alte Schauspielhaus






 

Die Gebäude links daneben wurden im Krieg zerstört





Am Theaterplatz stand noch das alte, nach dem Krieg reparierte Gebäude des Schaupielhauses, in das meine Mutter und ich noch für einige Jahre gingen, bis es bedauerlicherweise abgerissen wurde, um einem hochmodernen Bau mit Glasfassade, "Blechtrommeln" innen an der Decke als Verzierung des Foyers und Gemälden von Marc Chagall Platz zu machen. Obwohl ich das alte Theatergebäude mochte, gefiel mir dieses neue Gebäude mit seinem "verrückten" Foyer nach einer Weile. Es war "zeitgemäß" und kontrovers, das sagte mir zu. Natürlich regte man sich in der Stadt auf über diese "komischen Blechtrommeln", man bezog sich wohl damit auch auf das Buch von Günter Grass, aber da war auch eine Faszination an dem Neuen zu spüren.




Das neue Gebäude des Theaters, 1963 gebaut


Der Saal für die Opernaufführungen war noch der gleiche wie vorher, aber das Schauspielhaus war innen neu, ebeso die "Kammerspiele". In Richtung Hauptwache kam man dem Hotel "Frankfurter Hof" vorbei, zwischen dem pompösen "alten Kasten" und der Hauptwache gab es noch ein paar ältere Gebäude, aber in der Mehrzahl waren es Nachkriegsbauten.









Das Hotel Frankfurter Hof am Kaiserplatz



Damals stand noch ein Brunnen in der Mitte des Platzes, der versetzt wurde, damit Autos freie Bahn haben.

 
Da die Haupteinkaufsstraße "Zeil" und die unmittelbare Umgebung der Hauptwache nur aus den üblichen neueren Kaufhaus- und Bürogebäuden bestand, war auch da wenig Ahnsehnliches zu sehen.
 

Die Hauptwache mit Einblick in die Einkaufsstraße Zeil









An der Hauptwache 1959
Rechts im oberen Teil des Fotos sieht man noch eine Baulücke vom Krieg





Blick von der Hauptwache nach Süden, Siebziger Jahre




Inzwischen sieht die Hauptwache etwas anders aus

Blick zur Katharinenkirche und Zeil





Die Zeil von der Konstabler Wache aus gesehen, 1950

Das sah auch in den Sechziger Jahren nicht anders aus
Dieses Foto erinnert mich daran, dass meine Mutter und ich häufig auf der Zeil einkauften , vor allem Lebensmittel im Kaufhaus Herthie. Und dass wir das auch im Winter taten, wenn es um fünf Uhr schon dunkel war.

Wir waren sehr beeindruckt von dem vielfältigen Angebot bei Herthie. Wir konnten sogar Schweineschmalz und auch Gänsefett dort finden, etwas, das wir gerne im Winter in Eisenach gegessen hatten. Das gesamte Angebot an Obst und Gemüse, ebenso Fisch, Fleisch, Schinken und Käse, war sehr groß. Es gab alles in einem Laden, was neu für uns war. Damals gab es den Supermarkt in der Eisernen Hand in der Nähe von unserer Wohnung noch nicht. Wir genossen diese herrliche Lebensmittelabteilung also sehr.

Nun begebe ich mich erst einmal in die Weberstraße im Nordenend, wo wir Ende 1960 oder Anfang 1961 eine kleine Zweizimmerwohnung fanden. Auch dort waren die meisten Häuser vier- bis fünfstöckig und die Straßen für meine Begriffe schluchtenartig. Außerdem gab es kaum Bäume, vielleicht ein paar Büsche in den Vorgärten, aber generell war die Gegend damals etwas eintönig und grau, aber auch nahe zur Innenstadt.


In der Weberstraßse 1963




Die Weberstraße im Nordend

Das leicht rosa getönte Haus in der Mitte des Fotos, neben dem Giebelhaus ist die Nr. 5, in der wir im dritten Sockwerk wohnten




Dieses Foto der Weberstraße stammt aus dem Jahr 1989. Als wir dorthin zogen, sah alles wesentlich grauer aus, fast so grau wie Niederrad im Südwesten von Frankfurt.


 
Die Bruchfeldstraße in Niederrad
 
In einem der weißen Gebäude in der Mitte des Fotos wohnte eine damalige Schulfreundin. Die Wohnung war ungeheuer eng und winzig.
 
 




Meine Mutter und ich erkundeten nach und nach die Stadt, enweder schon von Niederrad aus, wo wir ja einige Monate bei einem Schulfreund meiner Eltern wohnten.

Und natürlich dann auch von der Weberstraße aus. Ich erinnere mich noch gut an einen Ausflug zum gotischen Dom in der Nähe vom Römer, dem Rathaus der Stadt. Ich lernte den Dom erst später richtig schätzen, er war erstmal einfach sehr groß, hatte aber auch eine schöne, rötliche Sandsteinfarbe. Wir stiegen hinauf in den Turm, wobei mir leicht schwindlig wurde.

Man konnte durch die filigrane gotische Architektur nach unten sehen und das war für mich unangenehm. Im Inneren des Domes gab es einige wunderschöne gotische Schnitzereien, aber auch das bemerkte ich erst später.




Der gotische Dom mit dem alten Saalhofgebäude im Vordergrund


Der Henninger Turm in Sachsenhausen







Meine Mutter bei einem Ausflug zu Henninger Turm, 1963

Der Henniger Turm in Sachsenhausen war wohl noch etwas aufregender für mich, da man einen tollen Blick auf die Stadt und die Umgebung hatte und ich hatte dort keine Schwindelgefühle, da die Aussichtsplattform hoch genug eingezäunt war. Es roch ein bißchen nach der Brauerei, zu der der Turm gehörte. Der Turm war ein Silo für Gerste für das Frankfurter Henniger Bier, das ich später auch ab und zu trank.

In Sachsenhausen wohnte auch eine alte Jugendfreundin Freundin meiner Mutter mit ihrer Familie. Sie waren schon eher als wir aus Leipzig in den Westen geflohen. Sie wohnten in einem "Eigenheim", was natürlich was besonderes war, obwohl keine architektonische Besonderheit, aber es hatte einen Garten. Der Sohn, Klaus, der Familie H. war etwas jünger als ich und ein "Rauhbein". Wir tauschten damals Briefmarken, wobei er mich wohl immer wieder "betrog", wie ich fand. Sein Vater kam auch einmal heim von der Arbeit und fragte ihn, ob er mich wieder getäuscht hätte oder so was ähnliches. Ich fand das natürlich schrecklich abstoßend und "typisch westlich". Es schien immer darum zu gehen, andere zu übervorteilen oder sie herunterzuputzen.

(Komischerweise wohnt dieser Klaus H. seit einigen Jahren auch in Oregon, in der Nähe von Corbet, östlich von Portkand und betreibt eine Weihnachtsbaumfarm. Er war wohl lange in Kalifornien in der Musikszene und als Gitarrenstimmer für berühmte Musiker oder Sänger tätig gewesen, wie er mir sagte. Jedoch waren die Grundstückspreise dort aber so gestiegen, dass er und seine Frau nach Oregon zogen. Ich habe einmal mit ihm telefoniert, da mir sein Name bei irgendeiner Einladung zu einer Party bekannt vorkam und ich ihn einfach anrief, um herauszufinden, ob er wirklich der war, den ich vermutete. Bei dem Gespräch stellte sich schnell heraus, dass er immer noch der "alte", angeberische Klaus war. Ich erinnerte ihn an die Briefmarkentauschaktionen und seine Machenschaften, das konnte ich mir nicht verbeißen. Er gab zu, dass er ein "schlimmer Kerl" als Kind gewesen war. Ich sah ihn dann auf dieser Party, allerdings nur von weitem, wir sprachen nicht miteinander, wie das ja so häufig zwischen Deutschen passiert, die sich nicht so ganz grün sind. Er ignorierte mich und ich ihn auch.

Hinterher fand ich das recht albern und bereute es etwas, aber ich erinnerte mich auch an seinen Ton am Telefon und mir verging das Interesse, mit ihm zu sprechen. Er hatte die feinen Gesichtszüge seiner hübschen Mutter, aber sein Verhalten war wohl eher von seinem unsympathischen Vater geprägt. Trotz allem hatten wir ja einiges gemeinsam, denn seine Familie kam auch aus der DDR, allerdings gingen sie schon sehr früh in den Westen, soweit ich weiß. Meine Mutter war mit seiner Mutter in ihrer Jugend gut befreundet gewesen und sie hatten wohl auch später Briefkontakt. Woher sie sich kannten, weiss ich allerdings nicht. Aber sie waren zusammen an der Ostsee, es gibt auch Fotos von beiden zusammen. Aber so geht es manchmal, alte negative Erfahrungen mit einer Person prägen den späteren Umgang mit ihr und lassen sich nicht ohne weiteres vergessen. )

Meine Mutter entdeckte dann den Stadtwald südlich von Sachsenhausen. Man konnte mit der Straßenbahn hinfahren. Allerdings war der Wald für meine Begriffe langweilig, weil flach und ohne Hügel mit Ausblicken und sehr geraden, breiten Wegen. Der Wald war genau das Gegenteil vom Thüringer Wald und begeisterte mich daher überhaupt nicht. Aber es gab einen Aussichtsturm, den 43 Meter hohen, hölzernen Goethe Turm, den wir erkletterten und da hatten wir endlich einen hübschen Ausblick.


Der Goethe Turm 
 
Das war schon immer wichtig für mich und auch für meine Mutter. Wir waren durch die Wartburg und andere Aussichtspunkte in der Umgebung von Eisenach so daran gewöhnt, dass sie mir natürlich im flachen Stadtwald fehlten.

Die Parks in Frankfurt sind eigentlich schön, aber damals, in den frühen Sechziger Jahren, konnte ich das nicht recht sehen. Ich war einfach heimwehkrank und ein Gang durch den sehr schön angelegten, großen Grüneburgpark rief bei mir nur Langeweile hervor. Es war alles künstlich, hatte nichts wildes wie ein natürlicher Wald an sich. Später, als ich in Bockenheim wohnte, frequentierte ich den Park sehr oft. Auch schon zur Zeit meiner Freundschaft mit den Amerikanern entdeckte ich diesen Park erst richtig. Wir wurden damals noch öfters von Parkwächtern oder Polizisten vom Gras heruntergescheucht. Es gab Schilder mit der typischen Warnung "Betreten des Rasens verboten", aber irgendwann gab die Stadt auf, weil sich viele Leute einfach nicht daran hielten. Nun konnte man den Rasen als Spiel- und Liegewiese benutzen, was sehr zur Atraktivität des Parks beitrug.


Die Oase des Botanische Gartens beim Grüneburgpark



Neben dem Park gab es den Botanischen Garten, der zum Botanischen Institut gehörte, aber auch öffentlich zugänglich war. Meine Eltern gingen in späteren Jahren oft dorthin. Ich hatte den Garten schon 1968 mit meinem Freund Dave entdeckt. Dort wuchsen Pflanzen aus aller Welt und u.a. auch Hanfpflanzen. Daher wußte Dave wohl von diesem Garten. Es war sehr entspannend, dort auf einer Bank zu sitzen oder über die Wege zu den verschiedenen botanischen Bereichen zu schlendern oder im Frühling die blühenden Azalien Sträucher und sonstige fremdartige Pflanzen zu bewundern.

Ich habe das während meines Studiums oft gemacht, da ich Seminare in der Feldbergstraße im Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung hatte, was nicht weit war vom Park und Garten.

Der Holzhausenpark mit seinem "Wasserschloß" war zwar klein, aber nicht so weit und ganz hübsch. Der kleine Bethmann Park, noch näher zur Weberstraße, hatte Blumenbeete und viele Bänke, die von alten Leuten besetzt waren. Das wäre jetzt eher was für mich, als es das damals war.

Die Wallanlagen um die Innenstadt herum waren auch eine erfreuliche "grüne Lunge" fuer die Stadt. In unsere Nähe gab es eine kleine Anlage für Rollschuhläufer, die ich für eine Weile benutzte. Leider fiel ich aber hin und brach mir das linke Handgelenk und irgendwann stürzte ich auch sehr schmerzhaft auf"s Steißbein. Das machte mir Jahre lang zu schaffen. Wenn ich vom Mittagessen mit meiner Mutter im Arbeitsamt nach Hause ging, benutzte ich den Weg durch die südöstlich gelegenen Anlagen des öfteren.

Den Palmengarten im Westend besuchten wir auch ab und zu. Dort gab es, neben exotischen Gewächshäusern, den teuersten Tennisclub in Frankfurt, um den ich lieber einen Bogen machte, weil ich etwas neidisch war oder unglücklich, nicht mehr zu der schönen Tennisanlage in Eisenach gehen zu können.

Eine Zeitlang fuhr ich hin und wieder mit der Straßenbahn nach Seckbach, einem der zu Frankfurt gehörigen alten Dörfer am Nordostrand der Stadt, wo eine meiner Mutter bekannte Frau mit ihren zwei Töchtern wohnte. Wir spielten dort im Freien oder im Hutpark, der in der Nähe war. Aber es war recht weit für mich und die Mädchen waren älter als ich oder wir verstanden uns nicht so gut. Irgendwann fanden meine Mutter und ich auch den Lohrberg, ebenso in der Nähe von Seckbach, wo es sogar ein paar kleine Weinberge gab und Obstbäume aus früheren Zeiten, als das noch Bauernland war. Man hatte einen recht schönen Blick in die Mainebene und zu Stadt hin, die weit weg zu sein schien. Diese Gegend habe ich auch während meiner Zeit in der Buchhändlerschule im Herbst 1967 durchstreift. Nach und nach also gewöhnte ich mich an diese eher "künstliche" Natur und ich war froh, dass es sie überhaupt gab.

Der Feldberg im Taunus
 
 
 
Wir fuhren aber auch in den Taunus nordwestlich von der Stadt. Eine lange Straßenbahnfahrt brachte uns zur "Hohemark", einem Ort oder nur ein paar Häusern am südlichen Rande des Waldes, von wo aus Wanderer ihre Wege wählten, die zum "Sandplacken" oder dem Feldberg mit seinen 880 Metern Höhe führten. Wie das so üblich ist in Europa, gab es natürlich Gasthäuser an verschiedenen Orten, vor allem am Sandplacken, einer Wegkreuzung, und auch auf dem Feldberg, wo man seinen Kuchen und Getränke oder Suppen und Frankfurter Würstchen bekam. Diese Kneipen waren an Wochenenden immer voll und rauchig, aber z.B. im Winter auch ein willkommener Ort für Wärme und Essen. Wir mußten unsere Verpflegung nicht mitnehmen, wie das hier in den USA meistens der Fall ist. Ich erinnere mich noch an kalte Wintertage auf Skiern in der Nähe von Oberreifenberg, wo wir dann auch eine Kneipe fanden und uns stärken und aufwärmen konnten.

Wie man sieht, waren mir die weniger städtisch aussehenden Orte in Frankfurt und um die Stadt herum lieber als die Stadt selbst. Erst später in meinen Zwanzigern lernte ich die Stadt in ihrer Vielfalt und deren kulturelle Angebote mehr schätzen.

Aber ein paar Orte wie z.B. das Philantropin, eine ehemalige Schule für jüdische Kinder, später Sitz der Jüdischen Gemeinde ( http://de.wikipedia.org/wiki/Philanthropin_(Frankfurt_am_Main) in der Hebelstraße ganz in der Nähe von unserer Wohnung waren wichtig für mich. In dem Gebäude gab es damals in den frühen Sechziger Jahren ein Kino.


Das jetzt neu renovierte Gebäude des Philantropins im Nordend


In dem häßlichen Bürogebäude am Ende der Straße wurde übrigens für viele Jahre die satirische Zeitschrift "Pardon" gemacht, die ich auch eine Zeitlang gerne las.

Ich war regelmäßige Besucherin dieses Kinos und sah zahlreiche amerikanische "Western" und auch kitschige bundesrepublikanische Filme mit Lieselotte Pulver´oder ab und zu Krimis mit meinen Eltern. Die "Western" Filme vermittelten mir einen ersten Eindruck von der großen Schönheit der amerikanischen Wüstenlandschaft in Arizona und Utah. Ich erkannte diese Filmlandschaften später wieder bei unseren Reisen zum Grand Canyon und zu den Nationalparks in Utah.
 

Das Städel am Main






Meine Mutter und ich gingen auch ins Städelsche Kunstinstitut, das große Kunstmuseum auf der Sachsenhäuser Seite des Mains. Das war etwas ganz Neues fuer mich, schon allein die Größe des Gebäudes war überwältigend. Es dauerte einige Zeit, bis ich meine Lieblingsmaler fand und immer wieder zu diesen zurückkehrte. Ich entdeckte dort nach und nach neben den vielen alten Künstlern die Impressionisten, Expressionisten, Picasso, Max Ernst, auch Paul Klee, die mir sehr gefielen.

Im Steinernen Haus am Römer gab es regelmäßig sehr gute Ausstellungen von modernen Künstlern, die ich mir alle anschaute. Dieser relativ kleine Austellungsraum war eigentlich mein Lieblingsort für neue Kunst. Ich konnte mich dort in aller Ruhe mit den Gemälden beschäftigen, im Katalog nachlesen und lernte auf diese Weise viel über neue Kunstströmungen. Es war nie so voll wie das Städel Museum und leicht zu erreichen.



Copyright Gisela Förstermann 2014

Wednesday, February 23, 2011

1967 Die erste Reise zurück nach Eisenach


Wie ich schon hin und wieder in den anderen Kapiteln bemerkt habe, hatte ich oft große Sehnsucht nach Eisenach. Wir hatten natürlich regelmäßigen Briefkontakt mit den Großeltern Förstermann. Und ich hatte Kontakt mit zwei Schulfreunden, mit Karin H. und mit (mehr "Freund" als nur Schulfreund) Reinhard H. , so dass sich dieses Heimweh nicht nur auf Eisenach, die Wartburg und Umgebung bezog, sondern auch auf ein Wiedersehen mit R.

Also plante ich 1967 endlich im dritten Jahr meiner Lehrzeit eine Reise, wobei mir die Großeltern behilflich sein mußten. Sie beantragten ein Einreisevisum für einen zweiwöchigen Aufenthalt, schickten mir die Unterlagen dafür und endlich war es soweit im Sommer 1967. Dieser Antragsprozess hatte acht Wochen gedauert, soweit ich mich erinnere.
Ich war nun sehr gespannt auf die Stadt und die Leute und auf meine Reaktion darauf. Ein klein wenig nervös war ich schon auch wegen der Reise selbst, des langwierigen Grenzübertritts, über den man ja schon gehört hatte.
Würde es Schwierigkeiten geben, weil ich möglicherweise noch als "Republikflüchtling" galt?
Ich denke, dass diese Frage vor der Reise abgeklärt war, aber trotz allem war ich nervös.
Es war verboten, westdeutsche Zeitschriften oder bestimmte Bücher in die DDR einzuführen, aber ich brachte auf Rs. Bitte hin eine kleine Flasche Gin mit. Alkohol war erlaubt. Vermutlich hatte ich auch die DDR "Mangelwaren" Kaffe, Schokolade, Zigaretten, einige Zigarren und Zitronen für meine Großeltern dabei. Und vielleicht Lektüre in Form einer Zeitschrift, die ich dann einfach zurückließ, für die Grenzer, die sie sicher begierig lasen.
Der Zug auf dem Bahnsteig in Frankfurt war ein DDR Zug der sogenannten "Reichsbahn" (Was für ein absurder Name fuer ein "sozialistisches" Land) mit seinem charakteristischen "Ostgeruch" von Plastik, dort "Plaste" genannt, irgendwelchen Desinfektionssmitteln und Schmieröl oder Diesel vielleicht. Auf alle Fälle fiel dieser Geruch sofort auf, sobald man den Zug bestieg und in ein Abteil kam und er war immer gleich in allen Zügen, die ich auf meinen Reisen in die DDR in den folgendnen Jahren benutzte.
Es gab viele ältere Passagiere, die offensichtliche "DDR Reiseveteranen" waren. Sie hatten Taschen dabei, voll mit Kaffe, Kakao, Schokolade und anderen "Westsachen", die ihre Verwandten "drüben" wollten und schätzten.
Je näher wir an die Grenze kamen, desto aufgeregter wurde ich. Endlich erreichten wir Bebra, wo die elektrische "Westlokomotive" ausgetauscht wurde gegen die "Ostlok", eine Diesellokomotive.

(Dazu eine Erklärung aus Wikipedia: Nach dem Zweiten Weltkrieg verlagerte sich der Verkehr im Raum Bebra mehr in Nord-Süd-Richtung, da der Verkehr in Richtung Osten durch die nahe gelegene innerdeutsche Grenze weitgehend unterbrochen war. Bebra wurde allerdings Grenzbahnhof für Interzonenzüge in die DDR, Transitzüge und Militärzüge der Westmächte nach West-Berlin. In Bebra wurden die Züge von der Deutschen Bundesbahn an die Deutsche Reichsbahn mit Lokwechsel übergeben. Ab dem Sommerfahrplan 1973 geschah dies in Gerstungen. Die „Berliner Kurve“ (Nordroute, Gi.Fö.) wurde während der Zeit der deutschen Teilung nicht genutzt.

Zur weiteren Information: http://de.wikipedia.org/wiki/Innerdeutsche_Grenze#Einreise_auf_Einladung)

Von Bebra war es nur noch ein kurze Strecke bis nach Gerstungen, dem eigentlichen Grenzbahnhof. Wir näherten uns der Grenze, fuhren dabei mehrere Male von West nach Ost und umgekehrt, sahen die Wachtürme, den "Todesstreifen" der Grenze, das ganze Monstrum.
Wir fuhren in den Bahnhof von Gerstungen ein, allerdings war alles ohne Überdachung, es gab nur irgendwelche weißen Wände oder Absperrungen, so daß man nicht viel vom Bahnhof selbst sah. Wir hörten Stimmen, lautes Klopfen am Zug, dann wurden die Türen aufgerissen und mehrere Grenzer stiegen ein.

Außerdem sah man einen oder mehrere Grenzer mit Schäferhunden am Zug entlang gehen, der Hund wurde ab und zu unter die Wagen gelassen, vermutlich, um nach irgendwelcher Schmuggelware zu schnüffeln. Oder verbargen sich dort gar blinde Passagiere? Dann sah man Grenzer mit einer Leiter einsteigen. Sie wurde benutzt, um die oberen Teile der Gänge im Zug zu untersuchen.
Es war absurd, aber niemand grinste oder kicherte oder machte gar eine Bemerkung. Wir waren alle angespannt und mucksmäuschenstill. Die jungen Kerle, denn das waren sie meistens, manchmal aber auch Frauen, kamen näher und dann wurde die Abteiltür aufgerissen und "Passkontrolle" gebellt. Möglicherweise sagten sie auch "Guten Tag", aber vielleicht war das erst in späteren Jahren der Ost-West Entspannung der Fall.
Die Pässe wurden alle sehr sorgfältig geprüft und ab und zu wurden auch Fragen gestellt. Ich weiß jetzt nicht, ob ich mir das nur einbilde, aber es kann gut gewesen sein, dass ich bei dieser ersten Reise zurück in die DDR gefragt wurde, warum ich denn nach Eisenach fahren würde und wie lange. Ich gab natürlich brav Antwort und bekam dann den Pass mit einem Einreisestempel zurück. Als alle Passagiere kontrolliert worden waren, verließ der Grenzer das Abteil mit einem halbwegs freundlichen Gruß in sächsisch oder thüringisch: "Gute Weiterreise" und schob die Abteiltür zu. Dann kam jemand von der DDR Bank, um die Einreisegebühr, inoffiziell auch "Eintrittsgebühr" genannt, damals wohl noch keine festgelegte Gebühr pro Tag, einzusammeln und man konnte Geld tauschen, natürlich nur 1 zu 1.
Ich habe noch die Zettel, ich hatte 70 DM in 70 Ost Mark umgetauscht. Später wurde eine Tagesgebühr von 25 DM eingeführt, pro Aufenthalt von 10 Tagen z.B. waren das dann 250 DM pro Person. Das war teuer.









Man bekam Bescheinigungen für diesen Tausch, die man bei der Rückfahrt wieder vorzeigen mußte. Es durfte keine Ost Mark in den Westen ausgeführt werden, d.h. man war gezwungen, jeden Pfennig auszugeben, den man getauscht hatte. Möglicherweise mußte man auch Abrechnungen für Einkäufe vorlegen, um nachzusweisen, daß man das Geld auch ausgegeben hatte, bin aber nicht mehr sicher. Auf diese Weise kamen Devisen ins Land.
Kein schlechtes Geschäft für die DDR.

Das war aber noch nicht das Ende der Prozedur. Es kamen auch die Herren oder Damen vom Zoll, die nach illegalen Dingen fragten, die nicht eingeführt werden durften, vor allem Zeitungen, Zeitschriften und Bücher mit politischem Inhalt. Manchmal mußte man das auch durch Kofferöffnen beweisen.
Als ich1972 mit meiner Mutter, für sie das erste Mal nach der Flucht, nach Eisenach fuhr, stellte ihr der Zöllner irgendeine absurde Frage, entweder über ihren altmodischen Photoapparat, eine alte Rollei, oder über ihren Ring mit einem Aquamarin. Oder sie mußte den Koffer öffnen. Meine arme, sowieso schon nervöse Mutter war empört darüber. Ich bin sicher, dass die Grenzer und Zöllner solche nervösen Leute besonders gern unter die Lupe nahmen, weil sie auf diese Weise ihre Machtgefühle ausleben konnten. Ich mußte meine Mutter beruhigen und ihr klar machen, dass sie das nicht so ernst nehmen sollte. Aber ihre Empörung war natürlich berechtigt. Bloß war es nicht klug, sie den "Zollorganen" zu zeigen.

Nach einer guten Stunde waren die Grenzer endlich fertig mit ihrer Kontrolle und der Zug konnte weiterfahren. Allgemeine Erleichterung stellte sich ein. Man war nicht herauszitiert worden mit einem: "Kommse mal mit", bei dem die Opfer mit Koffern und allem aussteigen mußten und dann in einem Raum irgendwo auf dem Bahnsteig genauer unter die Lupe genommen wurden aus irgendeinem Grund. Es kann gut sein, dass ich das bei einer meiner Reisen nach "drüben" mal vom Zugfenster aus beobachtet habe und es mich sehr erschreckte. Was passierte mit den Leuten?

Aber damals, 1967, war meine Aufmerksamkeit auf die mir bekannten Dörfer Oberellen, Förtha und Unkeroda gerichtet, an denen der Zug dann vorbeifuhr. Von Förtha aus konnte man die Wartburg sehen, die bald weit oben über dem Zug auftauchte und mein Herz schneller schlagen ließ und mir die Tränen in die Augen trieb. Ich liebte diese Burg und nun sah ich sie wieder und würde auch bald dorthin gehen können, wo ich so lange nicht gewesen war.
Ich renkte mir fast den Hals aus, um soviel wie möglich von ihr zu sehen, dann aber fuhr der Zug durch einen Tunnel und danach durch das enge Georgental, von wo aus die Burg nicht mehr sichtbar war.
Da der Zug recht langsam fuhr, war es moeglich, alles etwas geruhsamer betrachten zu können. So fielen auch die grau-braunen Häuser und Gebäude in der Nähe des Eisenacher Bahnhofs auf. Es sah doch recht traurig und düster aus.



Der Eisenacher Bahnhof






Meine Oma Förstermann (Die Großeltern Fö. wurden von mir von Anfang an Oma und Opa genannt, im Unterschied zu den Großeltern Paulmann, die darauf bestanden, sie "Großvater und Großmutter" zu nennen. Hier also heißen die beiden , wie immer, Oma und Opa. Außerdem muss ich hinzufügen, dass die Oma Erna die zweite Frau meines Opas war, da die Mutter meines Vaters, die erste Frau vom Opa, schon 1929 gestorben war.) war auf dem Bahnsteig und es war für uns beide schön, uns wiederzusehen. Die Unterführung unter den Gleisen war immer noch schmutzig weiß gekachelt und in der Bahnhofshalle stank es wie eh und je nach den Toiletten und es sah auch genauso aus wie vor sieben Jahren, als wir, meine Mutter, ich und die Oma als "Fluchthelferin" Eisenach verlassen hatten. (Siehe das Kapitel über die Flucht in den Westen)

Oma machte mich darauf aufmerksam, dass es keine Straßenbahnen mehr gäbe und dass wir stattdessen mit dem Bus bis zum Prinzenteich fahren müßten. Wir stiegen in einen alten, stinkigen "Ikarus" (diese Busse kamen aus Ungarn) Bus ein, der uns in holpriger Fahrt zum Prinzenteich brachte.
Das Haus in der Kapellenstraße 1 sah noch genauso aus, nur viel weißer. Es war ja 1965-66 renoviert worden.





Auf die Rückseite des Fotos hatte mein Opa geschrieben:


Das "Weiße Haus am Kober See"


(Ein Herr Kober arbeitete in dem Kiosk am Prinzenteich und lieh die Boote aus, verkaufte auch Gemüse und Eiscreme.)


Und der Teich ist auch noch da, mit Blick zur Kapellenstraße





Der Opa wartete schon auf dem Balkon




Die Vitrine im Eßzimmer und der Kachelofen





Oma in ihrem Sessel am Fenster im Wohnzimmer








Das Eßzimmer vom Wohnzimmer aus




Es war sehr aufregend und schöen, endlich mal wieder in der Kapellenstraße zu sein, den Opa zu begrüßen und die Wohnung so unverändert zu finden. Es sah nicht nur genau wie früher aus, es roch auch wie früher nach Zigarren- und Zigarettenrauch, denn beide waren starke Raucher. Das war natürlich nicht unbedingt angenehm, aber es war mir vertraut.



Die Wohnung, die Chaiselongue im Eßzimmer, alles war noch am gleichen Ort






Ich kann mich noch sehr gut an die erste Nacht auf der oben abgebildeten Chaiselongue erinnern, denn die große Standuhr schlug regelmäßig und ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich stand auf und hielt irgendetwas Mechanisches an, um das Schlagen der Uhr zu verhindern und konnte endlich schlafen.
Allerdings war die Oma nicht sehr erfreut darüber, denn es war wohl nicht so einfach, die Uhr wieder in Gang zu bringen. Aber ich bestand darauf, damit ich schlafen konnte. Ich war ja nun wirklich nicht daran gewöhnt, mit einer Standuhr im Zimmer zu schlafen. Sie hielt mich immer für etwas verwöhnt, aber sie gab nach. Ich dankte ihr dafür.

Am nächsten Morgen mußte ich mich bei der Polizei in der Stadt melden, das gehörte zu der gesamten Einreise- und Anmeldeprozedur für Westdeutsche. Ich glaube, meine Oma begleitete mich in der Straßenbahn vom Marktplatz aus dorthin, irgendwo im häßlichen Mühlhäuser Straßen Viertel. Es ging zum Glück relativ schnell und ich konnte mich auch gleichzeitig abmelden, mußte also nicht noch einmal dort aufkreuzen.

Reinhard hatte mir regelmäßig Fotos geschickt über die Jahre, so wie ich ihm auch welche schickte. So konnten wir verfolgen, wie wir langsam aber sicher größer und "interessanter" wurden.



Reinhard im Jahr 1962 nach der Konfirmation im Ringleben

Auf dem Bauernhof seiner Großmutter




Er kam am folgenden Tag und es war ein freudiges Wiedersehen. Er war aus Weimar mit seinem Motorroller gekommen und wir fuhren dann auch bald über die Domstraße und Mönchstraße in die Innenstadt, damit ich sehen konnte, was sich verändert hatte oder auch nicht. Es gab mehrere geparkte Autos auf dem Marktplatz. Auf dem etwas älteren Foto unten sind noch Straßenbahnen zu sehen, die es aber vom Bahnhof aus ins Mariental nicht mehr gab.
Rückblickend muß ich sagen, dass mir Eisenach fast unverändert vorkam, es waren zwar sieben Jahre vergangen und vielleicht sah auch einiges anders aus oder auch heruntergekommener, aber ich war wohl zu glücklich, um genauer hinzuschauen.
Das habe ich erst bei späteren Reisen gemacht, bin dann auch in Läden gegangen und sah das magere Angebot oder hörte das berühmte "Hamwer nich, kommt auch nich rein!"
Das Schreibwarengeschäft am Markt schien nach wie vor die gleichen Sachen zu haben und die Buchhandlung in der Karlstraße hatte auch hauptsächlich Marx, Engels und Lenin anzubieten. Immerhin fand ich einen Stadtplan von Eisenach, den ich wie einen Schatz hüte.
Ich kaufte auch ein paar Mal in einem kleinen "Supermarkt"in der Marienstraße für meine Großeltern ein, wo es das Nötigste gab. Die Bäckereien hatten damals noch recht gute Brötchen, ich vermißte nicht allzu viel. Aber ich mußte ja auch nicht immer dort leben.
Reinhard in Weimar




Der Marktplatz


Wir machten auch Ausflüge zum Tennisplatz im Johannistal, zum Burschenschaftsdenkmal und zum Panoramaweg. Eine Tour zu Wartburg machten wir erst nach der Rückkehr aus Weimar. Ich habe es deshalb so im Kopf, weil die Fotos in dieser Reihe von mir eingeklebt wurden.





Das Haus Domstraße 18 sah damals leicht "vergammelt" aus, wurde aber später renoviert.






Auf der Bank am Panoramaweg, mit Blick auf die Stadt und zum Tennisplatz




Reinhards Familie hatte vor dem Umzug nach Weimar zuletzt in der Stöhrstraße gewohnt, wo ich ihn öfters besuchte, als wir noch in Eisenach wohnten. Es war ganz in der Nähe vom Panoramaweg. Wir strolchten oft dort oben herum. Es war eine wunderschöne Landschaft und vor allem sehr vertraut. Der Besuch in diese Gegend erinnerte auch an diese Vertrautheit.

Reinhard hatte einen Freund, Götz L., der gegenüber vom Prinzenteich wohnte. Eines Abend tranken wir zu dritt die von mir mitgebrachte kleine Flasche Gin fast aus. Allerdings verschwand Reinhard plötzlich und es war klar, daß ihm schlecht geworden war. Ich war etwas geschockt, dass er so ein bißchen Alkohol nicht vertrug. Aber im Grunde war das natürlich besser, als wenn er unendlich viel trinken konnte.

Zu Götz noch ein paar Worte: Von Reinhard erfuhr ich kürzlich, dass er zur Mitarbeit als "IM", "informeller Mitarbeiter" bei der Staatssicherheit gezwungen worden war, weil er beim Spiel mit alten Pistolen erwischt worden war. Vermutlich hatte das ein Nachbar gesehen und ihn angezeigt. Waffenbesitz war in der DDR strengstens veboten und er hätte zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden können. Anscheinend machte ihm dann die "Stasi" einen "Vorschlag", als IM fuer sie zu arbeiten oder ins Gefängnis zu kommen. Inzwischen ist Götz, der Arzt war, gestorben, er war wohl gerade 60 Jahre alt.

R. und ich fuhren dann nach ein paar Tagen mit dem Motorroller nach Weimar. Eine recht lange Fahrt für mich, da ich an diese Transportart nicht gewöhnt war. Ich merkte es an den Beinen und im Rücken. Aber es war billig und außerdem war es wohl auch die einzige Reisemöglichkeit.

Mir war es offiziell nicht erlaubt, nach Weimar zu fahren, ich durfte den Kreis Eisenach eigentlich nicht verlassen, da ich keine Aufenthaltserlaubnis für Weimar beantragt hatte. Die Hs. waren keine Verwandtschaft, ich hätte sicher gar keine Erlaubnis bekommen. Also machte ich etwas "Illegales". Ein bißchen "nervös war ich sicher, aber ich wollte ja auch Reinhards Familie sehen und mit ihm zusammen sein. Und Reinhard versicherte mir, dass sich kein Mensch um uns kümmern würde. Nach dem Motto "Don't worry about it." Das höre ich übrigens immer noch von meinem amerikanischen Ehemann. Es scheint eine typisch männliche Verdrängungsart im Falle möglicher Probleme zu sein und manchmal ist sie angebracht, manchmal nicht.

Ich kannte Weimar nicht, war aber auch nicht besonders beeindruckt, es hatte für mich nicht den "Charme" von Eisenach, vielleicht fehlte mir die hügelige Landschaft und natürlich die Vertrautheit.

An einem Wochenende fuhren wir mit der Familie und zwei ungarischen Freunden, die bei den Hs. zu Besuch waren, zur Gedenkstätte Buchenwald. Es war ein trauriger Ort, in einer monumentalen Anlage.

Ich habe noch andere Fotos von dem Ausflug und wir jungen Leute sehen irgendwie nicht gerade sehr betroffen aus. In unserer selbstbezogenen Jugend hatten wir wohl doch kein richtiges Gespür für die Tragik des Ortes. Oder es lag auch an der Präsentation und Monumentalität, die uns erdrückte. Jedenfalls fällt mir bei der Betrachtung dieser Fotos immer auf, wie trotzdem unbeschwert wir Jungen darauf aussehen.

Von einer Eisenacher Bekannten und Blog Leserin wird diese Beobachtung bestätigt. Sie schrieb mir: "In Sachen Buchenwald kann ich auch bestätigen, dass es bei jungen Leuten keinen Eindruck hinterließ".

Natürlich kannte Reinhard und seine Familie die Gedenkstätte. Sicher hatten sie schon viele Besucher dorthin begleitet.

Hier noch ein erwähnenswerter Zusatz von einem ehemaligen Eisenacher, jetzigem Erfurter und Blog Leser:

"Interessant ist die Erwähnung deines Besuches im KZ Buchenwald. Ein Besuch dieser Gedenkstätte auf dem Ettersberg war für nahezu alle Jugendlichen der DDR Pflichtübung. Für uns quasi in der Nachbarschaft Wohnenden sogar mehrmals. Wie alle staatlich indoktrinierten Wallfahrten war mir das lästig und suspekt, wenngleich diese Buchenwaldbesuche schon ein düsteres Bild hinterließen. Was jedoch nichts daran änderte, dass ich, wie sehr viele andere in meinem Alter, solche Pflichtausflüge mit ideologischer Berieselung nicht mochte.

Ich wäre niemals auf die Idee gekommen mit einer Freundin, und schon gar nicht mit einer Westfreundin, Buchenwald zu besuchen und ihr Thälmanns Todesplatz zu zeigen. Das wäre mir peinlich vorgekommen."

Meine Antwort darauf ist: Warum? Ich war mir doch bewußt, was oberhalb von Weimar vor sich gegangen war. Diesen Aspekt von Weimar konnte man ja nicht einfach ignorieren, das wäre meiner Meinung nach viel peinlicher gewesen.

Und weiter sagt mein Blogleser: "Möglicherweise hatten speziell die Bürger Weimars der 60er Jahre auch ein weniger von sozialistischer Propaganda, als von den realen Fakten geprägtes diesbezügliches Geschichtsbild, das sie ihren Kindern weiter vermittelten. Der kommandierende Offizier der amerikanischen Einheiten, die Buchenwald befreiten, war derart erschüttert von dem was sich ihm darstellte, dass er ein Exempel statuierte. Er ließ kurzerhand 1000 Weimarer auswählen und sie am 16. April 1945 von seinen Soldaten durch das KZ eskortieren. Das, was sie da zu sehen bekamen, hat deren von Goethe und Schiller geprägtes kulturelles Selbstverständnis vermutlich nachhaltiger verändert, als jegliche abstrakte Propaganda es je vermocht haben mag. So etwas Einschneidendes multipliziert sich natürlich in der Bürgerschaft."

Ich gehe bei Rs. Familie davon aus und hoffe, dass der Leser recht hat mit diesem Kommentar.

Noch etwas zu Reinhards Familie. Sein Vater sagte mir damals bei dem Besuch in Weimar, daß er in den Westen gegangen wäre, wenn seine Frau nicht so an ihrer Familie und dem Bauernhof in der Nähe von Erfurt gehangen hätte. Sie wollte nicht weggehen, also blieben sie in der DDR.



Reinhard, sein Vater und der ungarische Freund Peter




Das Denkmal in der Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar





Wir machten dann noch einige andere Ausflüge in und um Weimar herum, genossen das schöne Wetter und fuhren dann wieder zurück nach Eisenach. Auf dem Weg dorthin hielten wir in Erfurt und ich konnte wenigstens kurz die schönen Kirchen und Plätze der Stadt bewundern. Meine Oma Förstermann stammte aus Erfurt und sie vermißte die Stadt sehr, wie ich später von ihr hörte.



Wieder in Eisenach, machten wir endlich auch einen Wartburg Ausflug. Laut meinem Fotoalbum gingen wir an einem Morgen schon um 7 Uhr früh zur Burg, um sie "für uns allein" zu haben.
Wir hatten noch eine Woche zusammen, trafen uns jeden Tag und gingen viel spazieren. Dabei sprachen wir auch über "unsere Zukunft". Wie sollten wir einen engen Kontakt aufrecht erhalten, wenn wir uns nur so selten sehen konnten? Wir waren verliebt und wollten zusammen sein, bloß wie ließ sich das unter den bestehenden Bedingungen bewerkstelligen? Einer von uns beiden, ich weiß nicht mehr, wer, vermutlich Reinhard, schlug vor, daß ich doch wieder zurückkehren könnte in die DDR und wir könnten dann heiraten. Wir hatten tatsächlich diese Idee, daß das die beste Lösung wäre. Wir meinten das ganz ernst und planten auch schon unseren Haushalt und die Wohnungseinrichtung.

Reinhard erinnerte sich daran, als wir im Jahr 2008 wieder Kontakt aufnahmen und miteinander telefonierten. Wir waren eben mit zwanzig sehr naiv und glaubten auch eine Zeitlang an die Verwirklichung dieses Rückkehrplanes.

Ich weiß nicht mehr, wann ich anfing, daran zu zweifeln, vermutlich erst nach der Eisenach Reise oder vielleicht auch schon früher, als ich noch dort war.
Es gab schon kleine Hinweise darauf, dass eine Rückkehr in die DDR für mich recht schwierig gewesen wäre. Als R. und ich bei seiner Tante waren, bat ich ihn um Handtuch, das er mir auch gab. Ich fand, es roch komisch, nicht frisch gewaschen. Ich bat ihn um ein anderes Handtuch. Er gab mir noch eins, bemerkte aber, dass sie alle gleich röchen. Und in der Tat war das richtig. Es roch irgendwie nicht gut und ich fand das unangenehm. Ich war an besser riechende Handtücher gewöhnt. Das "Ostwaschpulver" war nicht so gut wie das im "goldenen Westen".

Und irgendwann kam mir auch der Gedanke an die häßlichen "Ostschuhe", die ich dann tragen müßte. Könnte ich mich wieder an die karge DDR gewöhnen? Damals verdrängte ich noch eine Weile diese Gedanken, aber sie waren doch vorhanden.

Reinhard und ich trafen uns ca ein halbes Jahr später, vom 30.12.1967 bis zum 7.1.1968, in Prag. Wir hatten große Sehnsucht nach einem baldigen Wiedersehen und das war die einzige Möglichkeit außer Eisenach und gleichzeitig auch ein aufregendes Abenteuer. R. hatte mir zu Weihnachten ein Buch von Prag geschickt, wovon ich sehr begeistert war und das ich sehr gern mit ihm zusammen sehen wollte.

Wir, d.h. meine Eltern, mußten von Frankfurt aus ein Hotel buchen, ich brauchte natürlich ein Visum und Reinhard ebenso. Wir bekamen beide diese Einreisegenehmigungen in die damalige Tschecheslowakei und trafen uns im Hotel "Solidarita" in Prag. Dieses Hotel war ein häßlicher Kasten weiter draußen in einem gesichtslosen Stadtteil, nicht in der Innenstadt von Prag. Aber es war wunderbar, uns so relativ bald nach den Sommerferien wiederzusehen.

Die Stadt war herrlich, wenn es auch winterlich kalt und oft düster war. Und es lag sogar Schnee. Wir erkundeten die Stadt zu Fuß, nach einer Busfahrt vom Hotel aus in die Innenstadt. Einige kleinere Läden in der Nähe der Orte, die wohl auch Touristen aufsuchten, waren gut bestückt, besser als in der DDR. Für Essen gaben wir ansonsten wenig Geld aus, ich kann mich an kein Restaurant erinnern, außer an eine der bekannten Bierkneipen, wo es für meine Begriffe aber etwas rauh zuging. Wir sahen auch einige alte Gebäude, die von außen mit Holzbalken abgestützt wurden, da sie offenbar einsturzgefährdet waren. Prag war groß, zum Teil noch recht mittelalterlich im Kern der Stadt, es gab aber auch viele Renaissance Gebäude und Barockkirchen.

Im Hotel wurde ich uebrigens schon kurz nach meiner Ankunft mehrmals von einem der dortigen Angestellten in Flüsterstimme angesprochen, ob ich nicht DM zu einem guten Wechselkurs in tschechische Kronen umtauschen wollte. Nein, das wollte ich nicht, denn ich mußte bei der Ausreise Rechenschaft über meine Finanzen geben.

Nun zeigte sich auch bald ein gewisse Änderung des Verhaltens zwischen uns. Ich hatte mir Hoffnungen auf mehr Nähe zwischen uns gemacht, aber wir waren beide noch so jungfräulich, dass wir nicht so recht wußten, wie wir das anstellen sollten. Ich hatte mich in der Buchhandlung mit Literatur zum Thema Sexualität versorgt, aber das half nun schon mal gar nichts. Auch hatte ich das Gefühl, dass Reinhard möglicherweise von seinen Eltern auf die Unmöglichkeit unserer Idee meiner Rückkehr in die DDR aufmerksam gemacht worden war. Oder ich projizierte meine eigenen Befürchtungen in dieser Hinsicht auf ihn. Wir sprachen jedenfalls nicht mehr von Heirat und eine leichte Anspannung machte sich zwischen uns bemerkbar. Am Ende der Woche schien es klar zu sein, dass aus unserer Beziehung nichts werden konnte. Außerdem waren wir auch viel zu jung damals, gerade mal 20 Jahre alt und kannten uns so gut auch nicht. Wir sprachen nicht so darüber, aber ich erinnere mich daran, dass es irgendwie traurig war und nicht so lief, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Wir fuhren beide wieder zurück in das geteilte Deutschland, schrieben uns wohl auch noch, aber nach und nach hörten wir immer weniger voneinander, was wohl u.a. auch daran lag, daß R. dann in der Armee war.

Ob ich meinen Eltern von diesem Plan einer Heirat mit R. irgendetwas erzählt hatte, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Es war ja nun auch nicht mehr aktuell, denn ich hatte im Frühjahr 1968 meinen amerikanischen Freund Dave getroffen und damit war die innerdeutsche Liebesgeschichte vorbei. Ich schien mich von dem Heiratsplan, sicher auch dank meiner Jugend dann doch recht schnell verabschiedet zu haben, vielleicht, weil er so unrealistisch war und mir auch klar war, dass das nicht gut gegangen wäre. Mein Heimweh nach Eisenach hätte ich auf diese Weise in Heimweh nach dem Westen eingetauscht.

Ende April 1969 besuchte ich die Großeltern Förstermann und sah auch Reinhard zum letzten Mal.

Bei diesem Aufenthalt muß ich auch an einen eigenartigen Nachmittag mit mir unbekannten Freunden von R. denken. Wir saßen uns gegenüber, ich , die "Wessifrau" (diese Begriffe waren damals noch nicht gebräuchlich, soweit ich weiß) auf der einen Seite, die "Ossis" auf der anderen. Es herrschte eine gewisse Spannung und Konkurrenz, die sich in Vergleichen zwischen den verschiedenen Lebensstilen "hüben und drüben" zeigte. Ich denke, es machte mir die Entfernung zwischen den "Ossis" und "Wessis" bewußt, obwohl ich mich ja damals eigentlich eher den Ossis zugehörig fühlte, was diese aber ganz und gar nicht so sahen. Und was ja auch nicht mehr stimmte, ich war eine Außenseiterin, im Westen wie im Osten.

Bei dem gleichen Aufenthalt kamen auch ein Freund von R., Ulrich S. mit einem anderen jungen Mann zum Haus meines Großvaters, um mich zu bitten, Ost Mark in Westgeld umzutauschen und sie wollten auch über mich an Jeans und Perlonstrümpfe herankommen. Ich lehnte das natürlich ab. Erstens musste ich meine Finanzen an der Grenze darlegen und durfte, wie schon erwähnt, keine Ostmark in den Westen ausführen und zweitens kannte ich die Leute kaum oder gar nicht und fand es doch recht frech, mich um einen solchen Gefallen zu bitten. Für gute Freunde hätte ich zumindest Jeans besorgt, aber auch keinen Umtausch gemacht. Das war einfach zu gefährlich. U.S. war also einer der weniger angenehmen Leute, die ich in Eisenach traf.

Er schickte mir übrigens voriges Jahr über eine alte Eisenacher Feundin ein Foto des Grabes meiner Großmutter Margarethe F. und ich bedankte mich dafuer, woraufhin er mir antwortete: "Ich kannte Deinen Vater und Großvater - natürlich nur flüchtig. Erinnere mich aber an eine Geschichte, daß Dein Großvater mit irgendeiner Nazigröße bekannt war.... Blödsinn merkt man sich einfach. " Ich habe versucht, mehr von ihm darüber zu erfahren, habe aber nie wieder was von ihm gehört. Das paßt auch zu ihm. Reinhard bestätigte mir, daß U. so seine "Eigenheiten" hätte, die nicht jedem zusagten.

Als ich 1972 zusammen mit meiner Mutter nach Eisenach fuhr, sah ich R. nicht mehr, soweit ich mich erinnern kann.

Aber wir schienen immer noch Briefkontakt zu haben, denn er sagte mir am Telefon, dass er alle möglichen Briefe und Postkarten aus den Jahren nach 1968 von mir hätte. Ich hoffe, sie bald von ihm zu bekommen, wie er mir im Februar 2011 versprach.

Ein kleiner, komischer Zusatz zu dieser Geschichte: Reinhard erinnerte mich bei unserem letzten Telefongespräch wieder dran, dass seine Mutter damals nach meinem Besuch in Weimar zu ihm gesagt hätte, dass ich ja so dünn sei und ihm sicher kein "ordentliches Essen" kochen könnte. Da mag sie recht gehabt haben. Ich bin nie eine große Köchin geworden.


Copyright Gisela Förstermann 2011

Wednesday, December 29, 2010

Mein weiterer "beruflicher (und sonstiger) Werdegang"


Das ungeliebte Frankfurt






Die Frankfurter Innenstadt war auch 1965 immer noch häßlich

Mit großer Erleichterung verließ ich sofort nach der Buchhandelsgehilfenprüfung die Buchhandlung Haase und Reich im Frühling 1968. Ich wollte in einer größeren Buchhandlung arbeiten, weil ich die mal wieder naive Vorstellung hatte, dass das interessanter und anspruchsvoller wäre. Ich bewarb mich also bei der Buchhandlung Mühlhausen am Rathenauplatz, obwohl ich diesen Laden im Grunde kaum kannte. Das galt auch für die meisten Buchhandlungen in Frankfurt. Denn wenn ich Bücher brauchte, bekam ich sie durch "meine" Buchhandlung oder auf der Buchmesse.
Jedenfalls wurde ich bei Mühlhausen eingestellt. Meine sehr kurze Karriere dort begann Anfang Mai 1968.

Mühlhausen war eine alteingesessene Buchhandlung, die voll in Händen von Frauen waren, wie ja fast der gesamte Buchhandel zu damaligen Zeiten. Frau M. war recht nett, Herr M. schien es auch zu sein und ebenso die anderen "älteren Damen", vermutlich zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, wie Frau Raabe und Frau Schünemann.
Es gab noch ein oder zwei junge, fertige Buchhandelsgehilfinnen, wie wir ja offiziell hießen nach dem Abschluß der Prüfung. Und es gab natürlich viele weibliche Lehrlinge und einen jungen männlichen Lehrling, die mir alle sympathisch waren. Außerdem gab es noch Herrn Harxen, einen Gehilfen, wahrscheinlich Mitte bis Ende zwanzig, dem die Damen um den Bart gingen.
Mit ihm kam man aber ganz gut aus. Er hat einen gewissen Sinn für Humor und ließ uns Jüngere mehr oder weniger in Frieden. Er war auch aus der DDR, aus Dessau, glaube ich, was man ihm auch anhörte. Im übrigen sah er aus wie Berthold Brecht mit etwas Babyspeck und demselben Haarschnitt. Vermutlich wollte er wie B.B. aussehen, was ihm ja mehr oder weniger gelungen war. Er hatte übrigens später seine eigene Buchhandlung in der Goethestraße, er war also eher ein Vollblut- Buchhändler, im Gegensatz zu mir und sicher auch anderen jungen Gehilfinnen.
Ob wohl die jungen Buchhändler/Innen immer noch "Gehilfen und Gehilfinnen" heißen nach der Prüfung? Diese Bezeichnung hört sich fast so an, als seien diese "unter" den Lehrlingen. Die lernen wenigstens was, während die Gehilfen nur helfen.

Die Räumlichkeiten im Geschäft der Mühlhausens waren zwar größer, es gab zwei Verkaufsräume in zwei Stockwerken und Bücherlager im Keller, aber die hinteren Arbeitsräume, in die ich verbannt wurde, waren fast noch schlimmer als bei Haase und Reich. Alles war sehr eng und dunkel, wo die Bestellungen aufgegeben wurden und wo die Schreibmaschine stand und wir auch unsere Pausen machen konnten.
Ich mußte mich nun erst einmal in meinen buchhändlerischen Fähigkeiten beweisen, was vor allem in den Hinterräumen, nicht aber bei der Kundenbedienung geschah. Das war eine Enttäuschung, denn ich bediente eigentlich ganz gerne, weil man da wenigstens des öfteren mit interessanten Leuten zu tun hatte. Die Büroarbeit, Bestellungen machen etc. war eher langweilig. Die spannendere Arbeit wurde aber von den erfahrenen älteren Damen gemacht. So fühlte ich mich weiterhin wie ein Lehrling, was mir gegen den Strich ging.

Es stellte sich bald heraus, dass mit Frau Raabe und ihrer anderen Kollegin nicht gut Kirschen essen war. Besonders Frau R. war ein klassischer "Drachen", die uns jüngere Frauen von oben herab behandelte und mit Argusaugen überwachte.

Im Grunde war der Umgang der Chefs mit uns jungem Gemüse schlimmer als bei H.&R. Ich sprach mit einigen Lehrlingen und Gehilfinnen darüber, die mir zustimmten, die aber damit irgendwie zurechtkamen oder zurechtkommen mußten, wie das als Lehrling so ist, auch wenn sie nicht zufrieden waren.

Zudem war Herr M., der Besitzer einer, der den Mädchen gerne unter die Röcke guckte, sie auch mal "betatschte", wenn sich die Gelegenheit bot und unpassende Bemerkungen machte, wenn sie die Wendeltreppe zum oberen Stockwerk hinaufgingen. Ich sah das einmal mit eigenen Augen, nachdem mich eine junge Kollegin darauf aufmerksam gemacht hatte. Ekelhaft. Ich hielt mich fern von ihm, so gut es ging. Er war im übrigen auch nicht immer im Geschäft.

Wichtig war, den beiden "Drachen" zu entgehen. Einmal schrie mich eine der "älteren Damen", Frau S. an, weil ich einen Fehler gemacht hatte. Ich beschwerte mich bei Frau M. Daraufhin wollte Frau S. mit mir sprechen und zwar im untersten Lagerraum im Keller. Wir fuhren mit dem Lift hinunter, sie sagte kein Wort, bis wir unten waren, vermutlich drei Stockwerke unter dem Laden.
Die Frau war mir unheimlich. Was hatte sie vor? Sie meinte, sie könne nicht oben im Laden mit mir sprechen, weil das dort zu öffentlich sei.
Gut, das verstand ich, aber warum drei Stockwerke weiter unten im Keller? Das schien mir völlig übertriebene Vorsicht zu sein.

Sie entschuldigte sich für ihren Ausbruch. Sie mache eine Krise durch, hätte eine Scheidung hinter sich und sei sehr belastet und nervös. Okay, auch das verstand ich und vergab ihr.
Soweit so gut, sie verhielt sich von da an freundlicher oder neutral.







Der kleine Club Voltaire in der Kleinen Hochstraße


Ich hatte inzwischen im Club Voltaire, nicht weit von der Buchhandlung, meinen amerikanischen Freund David kennengelernt. Er kam auch einmal in den Laden, um mich dort zu besuchen oder aus sonst einem Grund. Ich dachte nicht weiter darüber nach, hatte aber doch das Gefühl, dass das nicht gern gesehen wurde. Er kam nicht wieder in den Laden, wir trafen uns im Club oder er holte mich von der Arbeit ab. Ich war also mit einem "Ami Soldaten" befreundet, aha!!!! Das war sicher nicht ganz koscher, aber keiner sagte was.



David Robinson und ich bei meinen Eltern


Es war ja immerhin das Jahr 1968, die Studentenbewegung war bereits im Gang, wir sahen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg vom oberen Fenster des Ladens aus. Es gab die ersten Hippies in seltsamer Kleidung und mit langen Haaren.
Der erste "Hippie", den ich in Ffm. sah, war ein ehemaliger Schüler des Goethe Gymnasiums. Ich kannte ihn nicht persönlich, aber vom Sehen in der Schule und er erkannte mich auch. Er war groß und trug die verrücktesten, bunten Klamotten, die ich bisher nur in Zeitschriften gesehen hatte und trug einen "Afro". Etwas ganz neues war da in aller Öffentlichkeit zu sehen.
Es gab auch Berichte in der Zeitung und in Zeitschriften über Rauschgift und sonstiges Bedrohliches für Moral und Bürgerlichkeit.

Aber bei Mühlhausen herrschte die alte Ordnung!!
Eines Tage machte ich wieder einen Fehler bei einer Kundenbestellung und wurde vor dem Kunden im Laden von Frau R., dem "Oberdrachen", heruntergeputzt. Ich weiß nicht mehr, ob ich vor Wut und Scham in Tränen ausbrach, aber diese Szene, noch dazu in der Öffentlichkeit, reichte mir endgültig. Ich hatte die Nase voll von diesem autoritaeren "Weiberzirkus" in dem Geschäft und kündigte meine dreimonatige Probezeit, die fast abgelaufen war.

Herr M. wollte mich beschwichtigen, aber es gelang ihm nicht. Ich wollte weg aus dieser Atmosphäre. Mein geringer Gehalt spielte auch eine Rolle, obwohl mir klar war, dass das im Buchhandel so üblich war.

War der Buchhandel vielleicht für mich doch nicht das Gelbe vom Ei? Diesen Gedanken hatte ich schon als Lehrling gehabt. Mein Deutschlehrer am Goethe Gymnasium, Herr Hebel, hatte mich ja 1965 beim Schulabgang darauf aufmerksam gemacht, dass ich nicht in einer Buchhandlung arbeiten müßte, um meine Liebe zur Literatur zu pflegen. Er schien recht gehabt zu haben.

Was sollte ich nun machen? Ganz sicher erst mal eine Pause vom Buchhandel!

Meine Mutter, besorgt, wie sie war über meine Zukunft, schlug einen Schreibmaschinenkurs vor, den ich auch machte. Allerding habe ich es nie gelernt, nicht auf die Tastatur zu schauen, aber immerhin tippte ich später meine Seminarpapiere und meine Diplomarbeit. Und auch jetzt schreibe ich auf dem Computer meine Erinnerungen. So ganz umsonst war der Kurs also nicht.
Aber den Traum meiner Mutter, als Sekretärin zu arbeiten, konnte und wollte ich nicht erfüllen.

Ich war meinen Eltern dankbar, dass sie mich damals weiterhin unterstützt haben, obwohl sie sicher nicht erfreut waren über meine Entscheidung, den Buchhandel erst mal auf Eis zu legen.

In dieser Zeit des Nichtarbeitens verbesserte ich mein Englisch. Ich sprach mit Dave und seinen Freunden nur Englisch, soweit mir das möglich war. Da ich im Gymnasium fuer fünf Jahre Englisch hatte, war wenigstens eine Basis da, auf der ich aufbauen konnte.
Allerdings kam mir manches in der Alltagssprache komisch und unverständlich vor, z. B. das Wort "gonna", " I am gonna do this or that". Was bedeutete das? Ich konnte es nicht im Wörterbuch finden und fragte endlich eine der Frauen, Sue Lynn, in unserer Gruppe und sie erklärte es mir. Es bedeutet " I am going to do this...". Aha, ein Licht ging mir endlich auf und ich verstand ab sofort vieles besser.



Einer der Freunde von Dave war Bill Carlson und seine Citar

Diese Amerikaner, viele waren "GIs" (sog. "government issue", wegen der Uniformen und restlichen Kleidung, mit denen die Soldaten ausgestattet wurden) in der US Army, waren mein Kreis von Freunden und Bekannten. Ich hatte eigentlich keine deutschen Freunde außer ein paar Buchandelsbekannten und kaum jemanden vom Goethe Gymnasium.
Sie hatten sich für vier Jahre in Deutschland verpflichtet und damit zwei Jahre in Vietnam verhindert. Einige dieser Soldaten hatten auch ihre Frauen mitgebracht, viele der Männer waren allein. Dave war einer von ihnen und wir fanden uns, wie schon erwähnt, im Club Voltaire, der dem politisch linken Spektrum angehörte.

Ich hatte den Club während der Zeit in der Buchhändlerschule kennengelernt und und fühlte mich dort inzwischen zu Hause und ging nach der Arbeit bei Mühlhausen regelmäßig hin, da er auch ganz in der Nähe des Ladens war und es dort viele Zeitungen und Zeitschriften zu lesen gab. Und natürlich war der Club auch ein Refugium vom Elternhaus, in dem ich ja immer noch wohnte und von der Buchhandlung.

Irgendwann im Mai oder Juni 1968 mietete Dave ein Dachzimmer in der Miquell Alle oder Adickes Allee, einer stark befahrenen Ringstrasse. Das Zimmer war winzig, aber groß genug, um dort zu übernachten und auch Freunde zu Besuch zu haben.
Meine Eltern waren erst etwas geschockt, aber sie hatten inzwischen Dave kennengelernt und fanden ihn nett. Und ihre eigene Wohnung war klein, nur zwei Zimmer mit Bad, Toilette und Küche. Durch meinen Auszug hatten sie mehr Platz, obwohl meine Sachen natürlich noch bei ihnen waren. Es gab ja kaum Platz in dem kleinen Dachzimmer.

Nun waren das aber zu viele Freunde für die deutschen Mieter unter uns in der Miquell Allee und wir flogen bald wieder aus dem Minizimmer. Dave fand schnell ein anderes Zimmer im Nordend, in der Koselstraße, Ecke Friedberger Landstraße. Auch dort war es laut von der Straße her. Es war ganz in der Nähe der Wohnung meiner Eltern, die in der Weberstraße 5 wohnten. Wahrscheinlich war es eine Beruhigung für sie, daß ich so nahe war.
Gegenüber von uns wohnten auch Freunde von Dave, ein Ehepaar, Julius und Sue Lynn, die ich beide sehr nett fand. Er war Puerto Ricaner und ein sehr sanfter Mensch. Sue Lynn kochte wunderbare Sachen, die für mich sehr exotisch waren. Reis mit rohem Gemüse, Rosinen und dünnen, indischen Brotfladen, die in der Pfanne aufgingen und wunderbar schmeckten. Sie waren Vegetarier, zumindest zu der Zeit


Hier im ländlichen Eckenheim oder Preungesheim, weit draußen damals, lebten Julius und Sue Lynn einer ausgebauten Garage, bevor sie in die Koselstraße umzogen





Sue Lynn mit ihrem neugeborenen Sohn in der Koselstraße




Julius, Sue Lynns Mann

Es gab also zwei neue Welten für mich, die englisch-amerikanisch sprachige Welt und die linkspolitsche und kulturelle Welt des Club Voltaires mit seinem vielseitigen Angebot an Veranstaltungen, einem Publikum von in- und ausländischen Studenten, Gewerkschaftlern, Jusos und anderen wie ich selber.
Außerdem war der Jazz Club auch in der Nähe, wohin ich mit Dave öfters ging. Auch das war eine neue, fremdartige Erfahrung fuer mich.

Frankfurt war plötzlich großstädtischer und interessanter geworden. Ich hatte ja früher oft Heimweh nach Eisenach, nach der Natur dort, dem vertrauten Kleinstadtgefühl, den Großeltern...

Nun begann ich, mich etwas heimischer zu fühlen, obwohl ich ja mehr Englisch als Deutsch sprach. Nicht eigentlich heimisch mit den Frankfurtern, sondern mit den Ausländern und den Leuten, die anders dachten als die "Normalbürger". Ich war gewissermaßen selber Auslaenderin, zumindest fühlte ich mich oft genug so auf Grund meines DDR Hintergrundes.

Zum Club Voltair ein paar Worte in der kämpferischen Sprache der damalgin Zeit von Heiner Halberstadt, der einer der Mitbegründer des Clubs und schon damals eine ständige Präsenz im Club war:

"Seit 1962 gibt es ihn, hier in der Kleinen Hochstraße 5, den Club Voltaire. Seine Entstehung ist eingebettet in die sechziger Jahre. Damals, 1962, hatten ein paar jüngere Frauen und Männer, die aus linken Jugendorganisationen kamen, die Idee, für sich und für ähnlich Gesinnte und gleichermaßen politisch und kulturell Bedürftige in dieser Stadt einen Ort für Gesprächs-und Streitkultur einzurichten.
Ein kommunikativer Treffpunkt sollte es sein: Zur kritischen Auseinandersetzung mit der bornierten, alle gesellschaftlichen Bereiche lähmenden, ideologisch rechts fixierten Hegemonie der Adenauer-Epoche. Die Gründer des Club Voltaires wollten heraus aus den Schwarz-Weiß-Klischees des Kalten Krieges. Sie suchten nach Offenheit und Toleranz, waren bestimmt von den Ideen einer sozialen und humanistischen Emanzipation.
Nicht von ungefähr ernannten sie deshalb den französischen Philosophen Francois-Marie Arouet, genannt Voltaire, zum Namenspatron ihres Unternehmens. Voltaire war ja nicht nur der bedeutendste Vertreter der Aufklärung im Vorfeld der französischen Revolution, seinen Ideen ist nicht nur die Durchsetzung freiheitlich-demokratischer und emanzipatorischer Rechte in Gesellschaft und Staat zu verdanken, sondern Voltaire war gleichfalls ein entschiedener Verfechter umfassender Toleranz als Grundlage eines vernunftbestimmten gesellschaftlichen Zusammenlebens. Diese Grundorientierung hat den Club Voltaire in seiner gesamten Programmarbeit und mithin auch seine Lebensgeschichte bestimmt.

Auch, als Ende der sechziger Jahre eine neue Linke die politische Bühne betrat und sich nach einem nur teilweise gelungenem Ausbruchsversuch aus der herrschenden Gesellschaftsformation in x-ideologischen Verzweigungen verlor, verblieb „der Club“ bei seinem Prinzip: offen zu sein für alle Linke, aber sich keiner Gruppierung oder Strömung anzuschließen oder gar unterzuordnen. Sicherlich war auch dies entscheidend, dass es den Club Voltaire immer noch gibt.
Und dass es sicher auch weiterhin gute Gründe gibt, ihn fortzuführen. Denn soziale Abstiegs- und Zukunftsängste wachsen. Sie leiten Wasser auf die Mühlen rechter, nationalistischer und rassistischer Demagogen. Die zunehmende gesellschaftliche Rechtsorientierung ragt schon weit in die Mitte von CDU/CSU, aber auch in Bereiche der SPD hinein. Ein Realkapitalismus mit dem Machtanspruch einer endgültigen Weltordnung beherrscht die Welt. Die kapitalistischen, ausschließlich auf die materielle Verwertbarkeit gerichteten Gesetze und Praktiken haben einen gnadenlosen Konkurrenzkampf zwischen und innerhalb aller sozialen Lebensbereiche ausgelöst. Damit einher geht eine global wirksame, ebenfalls durch kapitalistische Denk- und Handlungsweisen ausgelöste Zerstörung aller Umwelt- und Lebensressourcen.
Kann die deutsche, die europäische Linke, mit ihren auf ein freundliches, menschenwürdiges Leben gerichteten Ideen und humanistischen Gesellschaftsentwürfen nicht mehr dagegenhalten? Hat sich diese Linke aus der Solidarität mit den weltweiten Freiheits- und Sozialbewegungen verabschiedet? Muss die Linke hierzulande abtauchen? In Resignation versinken, sich in Klageliedern gegenseitig bedauern? U.a., weil ein Gesellschaftssystem, das als Spätfolge des vom NS-Regimes ausgelösten zweiten Weltkrieges entstand, untergegangen ist? Ein Gesellschaftssystem, das sich zwar Realsozialismus nannte, aber in Wirklichkeit ein undemokratisches, bürokratisiertes Staatsgebilde war. Mag zudem auch das Vertrauen in die großen Solidarorganisationen aus augenscheinlichen Gründen gemindert oder angeschlagen sein – aber muss sich deshalb die Linke, mit all ihrer Erkenntnisfähigkeit, mit ihren auch aus der Geschichte ableitbaren oder ihr von daher aufgetragenen Gestaltungsmöglichkeiten, aus dem gesellschaftlichen Kampf verabschieden?
Wir, die wir den Club Voltaire erhalten und fortführen wollen, sehen statt dessen, dass es wieder ein zunehmendes Verlangen nach intellektueller Schärfe, nach Aufdeckung der in der Tiefe der Gesellschaft wirkenden und das aktuelle Leben bestimmenden Gesetze gibt – kurz, nach einer neuen „Dialektik der Aufklärung". Wir glauben feststellen zu können: Die Suche nach einer sozialen und individuellen Emanzipation hat wieder begonnen.
Der Club Voltaire gehört deshalb geistig allen, die seiner bedürfen. Also vor allem denen, die mithelfen wollen, eine interventionsfähige Linke – besonders gemeinsam mit den Jüngeren – wieder in Gang zu setzen. Denn sagt selbst: Bedarf es nicht erneut und zunehmend dringlicher einer progressiven gesellschaftlichen Gegenmacht, die in gegenseitiger Ermutigung der Anti- und Gegenaufklärung Paroli bietet: die im Sinne umfassender Emanzipation die Veränderbarkeit der Welt wieder erkennbarer macht?
So möchten wir das Programm in diesem Haus ausrichten und die Möglichkeiten des Club Voltaire als Ort politischer und geselliger Kommunikation für alle Freunde und Besucher des Club Voltaire noch stärker nutzbar machen."

Über den Club Voltaire am 15.04.2010http://www.club-voltaire.de/ueber/


Der Club Voltaire scheint doch weiterzubestehen, trotz aller Artikel, die ich im Internet las, dass er endgültig geschlossen würde, trotz seiner fast fünfzig Jahre, ein recht hohes Alter für einen räumlich so kleinen Club.
Übrigens feierte H. Halberstadt vor ein paar Jahren seinen achtzigsten Geburtstag im Club. Daran haette ich gerne teilgenommen....

Zurück zu den Amerikanern, mit denen ich für mehrere Jahre zu tun hatte.

Eins vereinte diesen jungen Amerikaner alle: sie waren Vietnam Kriegsgegner. Die politische Situation in den USA war für viele unerträglich. Viele fühlten sich als politische Exilanten, auch wenn sie nicht für immer in Deutschland leben wollten.

Einige, so auch Julius und Sue Lynn, interessierten sich für indische Gurus und deren Lehren, Bill Carlson spielte das indische Instrument Citar und andere hatten einen Zug zu den Hippies. Letzteres galt mehr für die, die ihren Armeedienst schon abgeleistet hatten, aber noch in Deutschland blieben.
Viele wollten auch etwas von der Welt sehen, bevor sie wieder in die USA zurückgingen. Einige rauchten ab und zu Hasch. Es gab mehrere, die künstlerisch begabt waren. Viele hörten Musik, die Beatles, die Rolling Stones, Blues, Folkmusic. Dave spielte Gitarre und war sehr begeistert von Blues.


Meine Eltern und wir im Sommer 1968 in Hallein vor dem Hotel Scheicher, wo wir in den frühen Sechziger Jahren jedes Jahr Urlaub machten. Dave und ich besuchten sie dort.
"Young lovers"


Amsterdam




Wir reisten im Sommer 1968 nach Amsterdam, von dem ich sehr beeindruckt war und wohin ich später auch noch einige Male reiste, auch mit meinem Mann. Die Architektur und die Internationalität von Amsterdam gefielen mir sehr. Ich war ja bisher außer in Österreich und in Prag nicht im Ausland gewesen. Endlich sah ich etwas neues von der Welt.


Wir trampten auch nach Österreich, besuchten meine Eltern in Hallein und fuhren dann weiter bis nach Zürich.

Bei der Gelegenheit schlief ich zum ersten Mal im Freien, irgendwo zwischen Salzburg und Hallein in einem Armeeschlafsack. Wir wachten bei Regen auf. Zwischen Konstanz und Zürich uebernachteten wir auf einer Wiese in der Naehe eines Friedhofes. Bellende Hunde tauchten auf, deren Augen wir auch sahen, als wir eine Taschenlampe in ihre Richtung hielten. Ich konnte nicht wieder einschlafen und wir schleppten unsere Sachen zum Friedhof, um dort zu schlafen. Am nächsten Morgen sahen wir ein Schild an einer Mauer, das auf Tollwutgefahr in der Gegend hinwies. Ab da wollte ich nicht mehr im Freien übernachten.










Dave spielt Mundharmonika auf der Fähre nach Dover



Im November 1968 reisten Dave und ich nach London. Die Fahrt mit der Fähre von Calais nach Dover war herrlich, es war sonnig und die See war ruhig. London war etwas duester, vor allem auch wegen der Jahreszeit. Aber es war recht fremdartig und fast exotisch für mich, schon allein wegen des "englischen Englisch", das ich nur schlecht verstand. Wir gingen unter anderem auch in die Tate Gallery, wo ich Kunst sah, die es im Staedel in Frankfurt weniger gab.







Zwei Londoner Bobbies mit Touristin Gisela




Dave hat es geschafft, die Armeezeit ist überstanden



Dave hatte nicht mehr viele Monate in der Armee abzudienen. Er war als "medic", als Sanitaeter und wohl auch als Automechaniker taetig, aber er hatte die Nase gründlich voll vom Militär und sicher auch von Deutschland. Mir war nicht immer klar, wie unwohl er sich anscheinend in Deutschland fühlte, aber sein Gesichtsausdruck auf den Fotos spricht Bände.




Goodby, gehaßte Army

Im Januar 1969 sollte er entlassen werden, die vier Jahre Militärdienst waren zuende. Sein Plan war, für einige Monate nach Indien zu reisen. Julius hatte das auch gemacht und kam mit sehr interessanten Berichten zurück.
Ich war seiner und auch meiner eigenen Meinung nach nicht so recht bereit für ein solches Abenteuer. Er fuhr also tatsächlich mit zwei Freunden, einer Amerikanerin und deren deutschem, ziemlich durchgedrehten Freund an einem Morgen im Januar 1969 los.

Er schrieb mir regelmäßig Briefe und ich vermißte ihn auch. Aber irgendwann beantwortete ich seine Briefe nicht mehr, obwohl mehrere Briefe von ihm kamen, in denen er mich darum bat, ihm zu schreiben. Ich war etwas beschämt, als Sue Lynn sah, dass ich einen neuen Freund hatte. Sie hatte mehrmals davon gesprochen, dass Dave mich sicher heiraten würde. Wollte ich das denn schon? Ich war mit 21 viel zu jung dafür. Ich ging ihr dann also aus dem Weg und wollte nicht darüber sprechen.


In meinem winzigen Zimmer in der Koselstraße im Frühjahr 1969






Sicher war ich auch enttäuscht, daß er so mir nichts, dir nichts verschwunden war. Ich machte mir auch etwas Sorgen um ihn, aber das Leben in Frankfurt ging ja weiter. Ich sah weiterhin meine und seine amerikanischen Freunde und hatte mich im Frühjahr 1969 in einen der jungen Männer, Richard L., verguckt und er sich in mich.




Rich auf der Reise nach Venedig, Frühling 1970





Luxembourg, wohin wir mit dem Porsche fuhren









Rich mit seinem "Rennauto", das er später verkaufte

Gott sei Dank, denn ich fand den Porsche denn doch zu "angeberisch"

So schnell ging das damals mit neuen Freunden. Ich wollte offensichtlich nicht auf Dave warten, bis er wieder in Frankfurt auftauchte, denn ich, und auch er, hatte keine Ahnung, wann das sein würde. Ich war ungeduldig und wollte einen Freund haben, der da war und nicht im fernen Indien herumzog.



Tatsächlich sah ich Dave auch nie wieder. Er kam zwei Jahre später zurück. Wahrscheinlich saß er in einem der westlich fahrenden Busse in einem der Länder zwischen der Türkei und Indien, als Rich und ich 1970 auf unserer Reise nach Asien waren. Er besuchte meine Eltern und ließ sich ein Foto von mir geben. Dann flog er heim nach Amerika.
Ich habe erst wieder hier in Portland von ihm gehört. Er rief mich eines Tages ca 1997 an, hatte meine Adresse und Telefonnummer von einem Freund in Seattle bekommen und wollte wissen, wie es mir geht. Eine Stimme aus der Vergangenheit, wie er selbst sagte.








Auf dem Amsterdamer Flohmarkt 1969





Rich wurde am nächsten Tag aus der Armee entlassen, seine Haare sind schon länger

Wir liehen uns in Amsterdam auch Farräder aus und fuhren nach Harlem und auch in Amsterdam herum. Ich wollte gar nicht wieder weg von dort. Das ging mir schon bei der ersten Reise dorthin so. Es ist sicher einer meiner Lieblingsgroßstädte in Europa.

Ungefähr vom Herbst 1969 bis Sommer 1970 arbeitete ich bei General Electric, zum Teil als Übersetzerin von englischen Texten und machte sonstige Büroarbeit, die gut bezahlt wurde. Der Chef war ein netter Holländer, mit dem ich Englisch sprach. Ich blieb dort etwa ein Jahr, glaube ich. Die Arbeitsatmosphäre und Bezahlung war auf jeden Fall besser als bei Mühlhausen, wenn es auch kleine Bürointrigen gab. Das störte mich aber nicht, denn ich wußte, dass ich dort nicht ewig bleiben würde.





Mike Michaelson und Sascha Maikowski im Grüneburgpark

Mike, einer der Freunde von Rich, war ein verrückter, aber netter Kerl, der sehr unter der Armee litt. Wir gingen oft von seiner Wohnung auf der oberen Zeil zusammen den gleichen Weg nach Hause, er in die Kaserne, ich in die Koselstraße. Er schlief nicht immer in der Wohnung, weil er früh bei der Armee sein mußte. Dort versammelten sich regelmäßig alle möglichen Amerikaner, die entweder noch in der Armee waren oder schon entlassen waren und durchreisten. Mike gab ihnen einen Ort zum Schlafen oder Leute treffen. Die Wohnung war im obersten Stock, hatte zwei große Zimmer, mit uraltem Waschbecken und Toilette auf dem Gang. Wir strichen die alten Türen und Fensterrahmen ganz bunt und hörten dabei die Beatles, "The White Album". Es war "trippy", wie Mike immer sagte. Wir hatten viel Spaß dabei. In der Zeit
zeichnete ich auch viel, ich fand meinen "inneren Ungeheuer" und bannte sie auf Papier.

Und ich sparte für eine große Reise, die Rich und ich zusammen machen wollten.
Diese Reise nach Indien mit Rich ist ein ganzes Kapitel für sich, zu dem ich irgendwann einmal kommen werde.
Ich möchte nur erwähnen, dass wir im Sommer 1970 aufbrachen, mit einem noch nicht ganz klaren Ziel, entweder Nordafrika oder Indien zu erkunden.
Erst einmal wollten wir nach Italien trampen, von dort ging es nach Korfu und Nordgriechenland. Dann waren wir einen Monat in Istanbul, wo wir u.a. einen Luxemburger trafen, der uns von seinen zahlreichen Reisen nach Indien und Australien und zurück nach Europa erzählte und uns Tips gab, wie man eine solche Reise nach Asien organisieren und gut überstehen könnte. Ich war sehr besorgt um unsere physische und psychische Gesundheit bei der Vorstellung, in der Dritten Welt zu reisen, ohne krank zu werden. Aber ich war auch fasziniert von einer Reise nach Indien, mehr als von der Idee einer Nordafrikareise. Außerdem konnte man damals nicht nach Israel und dann in die arabischen Länder reisen, was Rich aber gerne tun wollte.

Wir fuhren mit zwei Amerikanern, die ein Auto hatten und dieses in Afghanistan verkaufen wollten, von Istanbul bis Teheran. Die beiden "Amis" fuhren weiter nach Afgahnistan. Einen der jungen Männer trafen wir spaeter wieder in Delhi.
Dann ging es weiter mit dem Zug nach Meshed im Osten des Irans. Von dort ging es per Bus nach Afghanistan, wo wir ueber einen Monat blieben. Wir reisten dort mit dem Bus, es gab keine anderen Transportmöglichkeiten, von Herat nach Kandahar, dann nach Kabul und von dort aus in den Norden nach Masari Sharif und zurück nach Kabul.
Weiter ging's per Bus nach Pakistan, dann mit dem Zug nach Neu Delhi in Indien.
In Indien reisten wir kreuz und quer per Zug durch's Land für ein halbes Jahr, um dann im Mai 1971 noch für einen Monat nach Nepal zu fahren. Wir wanderten dort für vier oder fünf Tage in den Bergen in der Naehe von Pokhara.
Dann war es Zeit, sich auf die Heimreise nach Europa zu machen, die ca zwei Monate dauerte und auch wieder "überland" ging, nicht mit dem Fluzeug.
Im Juli 1971 kamen wir mit dem Nachtzug von Istanbul aus mittags am nächsten Tag in Salzburg in Österreich an, um dann mit dem Bummelzug nach Hallein, 15 km südlich von S., zu fahren, wo meine Eltern Urlaub machten. Wir waren fast ein volles Jahr auf Reisen gewesen und waren dünn und ich war ausgehungert nach deutschem Brot und Käse.



Meine Eltern waren froh, uns einigermaßen gesund und heil wiederzusehen.



Rich und ich, spindeldürr, in der Nähe von Hallein



Rich flog nach einer Weile zurück in die USA und ich wohnte vorläufig bei meinen Eltern.
Deutschland schien höchst sonderbar und so übertrieben wohlhabend zu sein, dass es einige Zeit dauerte, bis ich mich wieder eingewöhnt hatte.
Vor allem natürlich beschäftigte mich die Frage, was ich beruflich machen sollte. Wieder in den ungeliebten Buchhandel zurück oder in einen Verlag?

Ich war nicht die einzige, die sich Gedanken über meine berufliche Zukunft machte.
Meine Mutter hatte Kontakt mit einer jungen Frau in meinem Alter, die sie von ihrer Arbeit im Arbeitsamt kannte. Anita J. arbeitete inzwischen beim S. Fischer Verlag im Vertrieb als Sekretärin. Auf Betreiben meiner Mutter verschaffte mir Anita auch tatsächlich eine Arbeit in ihrer Abteilung. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich genau dort machte, irgendetwas mit Kundenbetreuung und Prospekte versenden an diese Kunden.
Es war jedenfalls totlangweilig, aber ich verdiente wieder etwas Geld und fand ein Dachzimmerchen in der Jahnstraße im Nordend. Ich musste nicht mehr nach den Regeln meiner Eltern leben und konnte abends nach Hause kommen, wann ich wollte, ohne ihnen Sorgen zu bereiten.
Einige der Kollegen im Vertrieb waren auch recht nett. Ich arbeitete zuerst in einem kleinen Raum mit einem älteren Kollegen, der die Buchhaltung machte.
Ein junger Schweizer, der Sohn von Otto F. Walter, (vom Walter Verlag) war Volontär bei Fischer und er besuchte mich öfters und wir schwatzten über Gott und die Welt. Das war wesentlich anregender als die Arbeit.
Nach einer Weile wurde ich in das Großraumbüro des Vertriebs versetzt, da ich offensichtlich zu viel schwatzte und nicht genug arbeitete. Der Chef saß in einem "Glaskabuff ", von dem aus er uns alle gut überwachen konnte. Allerdings sollte er eigentlich eher sich selbst überwachen, denn er war Alkoholiker. Man sah ihn ab und zu an der Flasche hängen, die er in seinem Schreibtisch verbarg. Nicht nur das verriet ihn als Alkoholiker, sondern auch sein Atem und sein rotes Gesicht.
In der Theaterabteilung des Verlags gab es eine junge Frau, Anne S., in meinem Alter, die ich auch bald näher kennenlernte. Sie erzählte mir von einer Möglichkeit eines zweiten oder dritten Bildungsweges, um das Abitur nachzuholen und dann zu studieren. Sie wollte Lehrerin werden und nicht mehr im Buchhandel arbeiten. Ich glaube, dass sie auch bei Mühlhausen Lehrling gewesen war und wir uns sogar flüchtig kannten.
Wir freundeten uns an und sahen uns regelmäßig, ich lernte auch ihren Freund kennen, mit dem sie zusammenwohnte.
In der Zeit bei Fischer lernte ich einen neuen Freund kennen bei einer Bekannten, die ich auch aus der Buchhandelswelt kannte. Ich weiss nicht mehr, ob ich Heidi W. schon vor der Reise nach Indien kannte, als ich bei der Montanus Buchhandlung unter der Hauptwache arbeitete oder erst danach. Jedenfalls hatten wir uns angefreundet und sie kannte Bernd S. Er war Lehrer und auch Diplom Pädagoge und arbeitete an seiner Doktorarbeit.
Er wußte einiges über diese Programme für ein außerschulisches Abitur und machte mich bekannt mit einem Freund von ihm, der in der Volkshochule in Offenbach in einem solchen Vorbereitungsprogramm für das sogenannte "Begabtenabitur" unterrichtete.
Ich entschloß mich, bei Fischer aufzuhören und widmete mich ganz dieser Aufgabe, dieses Abitur zu machen. Man mußte eine Prüfung in einem Universitätsfach, in dem man später studieren wollte, in meinem Fall Pädagogik, bestehen, die ein Pädagogik Professor abnahm. Die anderen Fächer wurden von einer staatlichen, d.h hessischen Prüfungskommision geprüft.

Ich mußte auch an zwei Universitätskursen im Studienfach Pädagogik teilnehmen, um zwei Gutachten von den Professoren für je eine Seminararbeit zu bekommen. Bernd kannte diese beiden Professoren und wußte, dass sie diese Form des Studienzuganges befürworteten.
Und ich ging in die Abendkurse der Volkshochule Offenbach, wo ich das Programm für die Prüfungsvorbereitungen belegte. Wir bereiteten uns in Literaturgeschichte, in sozialkundlichen/politischen Themen, Geschichte und Englisch vor.
Es war ausgesprochen intensiv und machte mir auch ein bißchen Angst, aber immerhin mußte ich mich nicht mit Latein und Mathematik herumschlagen. Diese Vorbereitungsarbeit dauerte für mich ca ein Jahr, vom Herbst 1972 bis Ende Sommer 1973. Bernd war mir oft behilflich bei vielen Themen und las meine Seminararbeiten. Ohne seine Hilfe wäre das ganze noch viel schwieriger gewesen.
Die Prüfung war unangenehm, wie alle Prüfungen, aber ich bestand sie, wenn auch nicht "mit fliegenden Fahnen".
Ich fing mit dem Diplom -Pädagogik Studium im Herbst 1973 an.


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